Archive for May 10th, 2008

Abbaustelle

Saturday, 10. May 2008

gerlingplatz1

Der Essener „Gerlingplatz“ wurde am 13. September 1922 in „Republikplatz“ umbenannt, am 8. Mai 1933 in „Platz des 21. März“ und am 15. Mai 1945, zufällig dem siebzehnten Geburtstag meiner Mutter, wieder in „Gerlingplatz“. So heißt er noch heute. Vor gut 30 Jahren frequentierte ich für kurze Zeit mal die Essener Szene-Kneipe Panoptikum, Gerlingplatz 4. Der Name war Programm, hier gab ‘s allabendlich eine Kollektion von menschlichen Sehenswürdigkeiten zu bestaunen und zu belauschen, die man je nach Blickwinkel als die Avantgarde der Exzentrizität oder als den Bodensatz resp. Abschaum der wohlanständigen Mittelmaßgesellschaft hätte bezeichnen können.

In diesem Panoptikum verkehrte gelegentlich auch ein vollbärtiger Hartmut W., der mit einem lautstarken Unikum von Motorrad vorfuhr, einer 1000-ccm-Maschine Marke Eigenbau, ausgestattet mit einem Automotor und auf verschlungenen Pfaden aus der DDR importiert. Ich kannte mich mit Kraftfahrzeugen aller Art schon damals noch weniger aus als mit den Zuchtbedingungen von Veilchenohrkolibris in Zimmervolieren fern ihrer Heimat in den venezolanischen Anden. Immerhin gab mir zu denken, dass sich regelmäßig eine Traube fachsimpelnder Biker um Hartmuts No-Name-Zweirad gebildet hatte, wenn wir nach langer Nacht im Panoptikum schwankend auf die Straße traten. Dass ich als angstvoll klammernder Sozius auf dieser Höllenmaschine mein Bett lebend erreichte, erscheint mir noch heute als Gnade des Schicksals.

Eines Nachts griff Hartmut im Panoptikum über einem Teller Spaghetti Bolognese für drei Mark mit der rechten Hand in die Innentasche seiner schwarzen Lederjacke und zückte ein altes Schwarz-Weiß-Foto im halben Postkartenformat. „Das habe ich meiner Mutter heimlich aus dem Familienalbum stibitzt.“ Ich sah im Hintergrund Hakenkreuzfahnen vor einer dreistöckigen Mietshäuserzeile, im Vordergrund eine Menschenmenge, darunter einige Uniformierte, und links eine Eckkneipe mit der gerade noch lesbaren Schrift überm Eingang: „Gaststätte Wilh. Schmidt“. „Das war mein Großvater mütterlicherseits“, erklärte Hartmut. „Und die Kneipe, die du da siehst, ist genau die, in der wir gerade sitzen. Damals war das ein Stammlokal der Nazis.“ Ich sah mir das Foto sehr genau an und fragte mit leicht zitternder Stimme: „Was ist das denn für ein Stapel, der da rechts unten aufgeschichtet ist?“

„Vermutlich eine Baustelle?“ Hartmut zuckte die Achseln. In meinem Hirn funkte es zwischen zwei grauen Zellen, eine quicklebendige Synapse stellte die entscheidende Verbindung her. Hatte ich nicht gerade vor ein paar Tagen noch gelesen, dass die Bücherverbrennung in Essen auf dem Gerlingplatz zelebriert worden war? „Leihst du mir das Bild mal?“ Kurz drauf bat ich einen befreundeten Fotografen, mir eine Reproduktion anzufertigen, und gab Hartmut sein Original bei unserem nächsten Treffen im Panoptikum zurück. Ein paar Jahre später besuchte ich den besten Kenner der Geschichte des Nationalsozialismus und der Verfolgung seiner Feinde in Essen, Dr. Ernst Schmidt, in der Alten Synagoge und legte ihm die Reproduktion vor. Es bestand kein Zweifel, dass dieses Bild am 21. Juni 1933 aufgenommen worden war, genau sechs Wochen nach Beginn der landesweiten Bücherverbrennungen, die heute vor 75 Jahren in der Reichshauptstadt Berlin begannen. Es gibt ein zweites Foto, das den lodernden Bücherstapel wenige Stunden später zeigt:

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Ich habe immer großen Respekt gehabt vor jenen Steinzeithistorikern, die beim Schürfen in den tiefen Schichten unserer humanoiden Vergangenheit einen Faustkeil von einem gewöhnlichen, zufällig lädierten Kieselstein unterscheiden können. In diesem einen, einmaligen Fall fühlte ich mich ihnen ebenbürtig. Dr. Schmidt hatte mit einem Blick erkannt, dass die Uniformierten auf dem Foto die Tracht der NSBO trugen, der „Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation“, einer Art Nazi-Gewerkschaft. Es war nämlich ein macchiavellistischer Schachzug der frischgebackenen „neuen Herren“ gewesen, bei den Bücherverbrennungen ihre Hauptkampftruppen, die SA und SS, bewusst aus dem Spiel zu halten und durch die alleinige Präsenz der NSBO den Eindruck zu erwecken, die Errichtung dieser „Scheiterhaufen wider den jüdischen und kommunistischen Ungeist“ sei nicht von oben angeordnet worden, sondern „aus dem heiligen Zorn des einfachen Volkes, dem Unmut des rechtschaffenen Arbeiters“ erwachsen. Der örtliche Kreisleiter der NSBO, Parteigenosse Knaden, sprach in seiner Rede folgende Worte, bevor die Lunte entzündet wurde: „Wenn wir auf dem Platz des 21. März, auf dem Platz des Geistes von Potsdam den Scheiterhaufen errichten, so gerade deswegen, weil auf diesem Platz früher die Arbeiter von den internationalen Marxisten verhetzt worden sind. Die Schriften dieser unseligen Volksverräter sollen nun auf diesem Platze ihr Grab finden, und aus dem roten Fanal möge sich ein neuer deutscher Geist entwickeln.“ (Zit. nach Klaus Wisotzky: Vom Kaiserbesuch zum Euro-Gipfel. Essen: Klartext-Verlag, 1996, S. 136 f.)