Archive for May, 2008

Samoa

Saturday, 31. May 2008

samoa

Ich lese gerade nebenbei den Reisebericht von Otto Ehrenfried Ehlers (1855-1895), der kurz vor seinem vermutlich gewaltsamen Tod auf Neuguinea die Insel Samoa im südwestlichen Pazifik besuchte. Das Buch ist soeben in lobenswerter Ausstattung neu aufgelegt worden. (Otto E. Ehlers: Samoa. Die Perle der Südsee. M. e. Nachw. v. Hermann Joseph Hiery. Düsseldorf: Lilienfeld Verlag, 2008.)

Man ist hin- und hergerissen bei dieser Lektüre. Der Verfasser tritt mit der Überheblichkeit eines kolonialistischen Herrenmenschen auf, aber er sucht doch auch die Nähe zu seinen freundlichen Gastgebern, die ihn durch ihre spontane Herzlichkeit und ihren Liebreiz beeindrucken. Die „Eingeborenen“ betrachtet und schildert er mal aus der Perspektive abendländischer Arroganz als halbe Tiere, dann wieder erscheinen sie ihm wie unschuldige, naive Kinder.

Ich kann dem pommerschen Gutsherrn, der auch dem weiblichen Geschlecht mit einer heute haarsträubend anmutenden Herablassung begegnet, trotzdem nicht wirklich böse sein, wenn ich mich in die Zeiten und Umstände zurückversetze, die das Denken und Empfinden eines solchen schmissigen deutschen Mannes disponierten. Ehlers erweist sich nämlich als ein überaus neugieriger und genauer Beobachter der für ihn völlig fremden Welt. Dass er dabei nicht aus seiner Haut und diese Welt nur durch seine europäische Brille betrachten kann – wer wollte es ihm ernsthaft zur Last legen?

„Unter sich sind die Samoaner in einer Weise gastfrei und freigebig, die nahezu an Kommunismus grenzt und sogar jeder weiteren Entwicklung des Landes hinderlich ist. Kein Samoaner denkt daran, Ersparnisse zu machen, seinen Besitz zu vergrößern oder die Zukunft seiner Familie sicher zu stellen; und sollte er dennoch daran denken, so würden seine Freunde schon dafür sorgen, daß ihm Gedanken dieser Art vergehen.“ (Ehlers, S. 75.) So möchte man fast glauben, der Kommunismus hätte doch eine Chance gehabt, wenn er und mit ihm die Menschheit sich auf jene klimatisch begünstigten Regionen der Erde beschränkt hätte, die ein sorgenfreies Leben ohne besondere Anstrengung gestatten.

Doch welch herbe Ernüchterung mutet uns Ehlers zu, wenn er auch in diesem irdischen Paradies bald auf die Schlange tritt, die solch naiven Glauben zunichte macht: „Alles gedeiht in einer beispiellosen Üppigkeit, und wenn in diesem herrlichen Lande zeitweise in einigen Distrikten dennoch eine Knappheit der Lebensmittel eintritt, so ist daran ausschließlich die von den Samoanern allem Anschein nach auf Lebensdauer engagierte Kriegsfurie, nicht aber die ihr Lieblingskind geradezu verhätschelnde Mutter Natur schuld.“ (Ebd., S. 67.) Warum gehen freundliche Menschen mit Pfeil und Bogen und tödlichen Speeren aufeinander los, wenn doch offenbar ihre natürliche Umwelt alles zum Überleben Nötige in verschwenderischem Maß bereithält? Man möchte fast meinen, die Schlange hörte auf den profanen Namen „Langeweile“.

[Das Titelbild „Zubereitung der Kawa, ca. 1898“ ist dem besprochenen Band entnommen. © Lilienfeld Verlag, Düsseldorf.]

Zoff im Bedford

Friday, 30. May 2008

bedford

New York, 30. Mai 1942 – heute vor 66 Jahren. Der 35-jährige Schriftsteller Klaus Mann bekommt Besuch in seinem Appartement im Hotel Bedford, 118 East 40th Street, Manhattan. Seit September 1938 wohnt Mann nun schon hier, zeitweilig unter einem Dach mit anderen namhaften Hitler-Flüchtlingen, Künstlern und Autoren wie Vicki Baum, Curt Riess oder Billy Wilder. Und auch jener Hubertus Prinz zu Löwenstein residiert vorübergehend hier, der vielen Verfolgten mit seiner „American Guild for German Cultural Freedom“ die Flucht ins amerikanische Exil ermöglicht hatte.

Da jedoch die USA keine mutmaßlichen Kommunisten aufnahmen, erfand Löwenstein folgenden Trick. Zunächst besorgte er den Flüchtlingen ein Visum für Mexiko, ein Land, das weniger zimperlich in seinen Einreisebestimmungen war. Der Weg dorthin führte aber über die USA, die immerhin ein Transitvisum auch in „verdächtigen Fällen“ nicht verweigerten. Hatten seine „Rescue Cases“ erst einmal ihren Fuß auf US-amerikanischen Boden gesetzt, dann setzte sich Löwenstein für sie ein, indem er ihnen Affidavits hilfsbereiter „Sponsoren“ verschaffte. Auf einer undatierten Liste solcher „Rescue Cases Attended to the American Guild for German Cultural Freedom“ tauchen unter den laufenden Nummern 26 und 31 auch folgende Personen auf: „Siemsen, Dr. Hans: Withdrawn“ und „Dickhaut, Walter, Both affidavits from Burrichter referred to Dr. Losenfeld“.

Wir wissen nicht, warum der Name Hans Siemsen in dieser Liste mit einem Doktortitel versehen wurde. Mitte Juni 1941 war er auf der SS Guinee von Lissabon kommend in New York eingetoffen, mit dem gleichen Schiff, auf dem auch Hans Sahl und Valeriu Marcu das rettende Ufer erreichten. Wohl aber wissen wir, wer jener Walter Dickhaut war, der schließlich nicht in New York, sondern auf Kuba landete, nämlich eben jener Walter D., der das Vorbild für Siemsens Hitlerjungen Albrecht Goers abgab, sein Geliebter. Ob es mit dem Affidavit für Dickhaut doch nicht geklappt hat? Für Ende 1941 vermerken die „Daten zu Leben und Werk“ im ersten Band der Siemsen-Ausgabe von Michael Föster jedenfalls: „Zunehmende Vereinsamung, wozu der Verlust seines Freundes Walter […] beiträgt. Alkoholismus, ständige Geldnot.“ (Hans Siemsen: Schriften. Verbotene Liebe und andere Geschichten. Essen: TORSO Verlag, 1986, S. 257.)

Am 30. Mai 1942 steht also der 51-jährige Hans Siemsen bei Klaus Mann im Hotel Bedford auf der Matte. Über diesen Besuch berichtet Mann in seinem Tagebuch: „Äußerst unangenehme Szene mit Hans Siemsen, der hereinplatzt – schwitzend und unappetitlich – und sofort in eine dieser lauten, nutzlosen und beschämenden politischen Diskussionen verfällt. Er schreit [Manns Freund] Christopher [Lazare] und mich an, als wir es wagen, seine Theorie in Frage zu stellen, alle Deutschen verabscheuten den Krieg und seien insgesamt ein wunderbares, friedliebendes Volk. Ungehobelt, stumpfsinnig und verrückt, besteht er auf seinem Standpunkt – chauvinistisch und brutal wie ein Nazi, oder eher, wie ein echter Deutscher. Was für eine abscheuliche Rasse! Wie absolut bar jeder Vernunft und jeder Höflichkeit! Es ist diese Mischung aus Roheit und Hysterie, die sie zur Geißel der Zivilisation macht. Wie recht ich habe, konsequent jeden Umgang mit diesem bornierten, lärmenden Pöbel zu vermeiden (mit der Ausnahme von vielleicht fünf oder sechs alten und vertrauten Freunden.)“ (Klaus Mann: Tagebücher 1940 – 1943. Hrsg. v. Joachim Heimannsberg, Peter Loemmle u. Wilfried F. Schoeller. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1995, S. 96.)

Das Bild, das Klaus Mann hier von Siemsen zeichnet, passt nun so gar nicht zu jenem Verfasser zarter Prosastücke, dem intimen Freund von Joachim Ringelnatz und Renée Sintenis, dem schwulen Pastorensohn, einfühlsamen Liebhaber und naturverliebten Flaneur, den wir aus seinen Schriften und Briefen kennen. What happened that this shit happened?

Inspiration

Thursday, 29. May 2008

Die linke untere Kieferhöhle lässt sich heute mit allen Mitteln nicht mehr beruhigen. Der dort vor Jahren halb abgebrochene Backenzahn, aus dem die giftige Amalgamfüllung von anno Tobak ins Leere ragt, schickt seinen pulsierenden Schmerz in die triste Diesseitigkeit.

Aber ich wollte doch nicht in die Fußstapfen jener wehleidigen Bloggerinnen treten, denen zum Tage selten mehr einfällt als die immerzu kränkelnde Befindlichkeit. Nichts schien mir überflüssiger als die Bekundung solch alltäglicher Zipperlein.

Also lassen wir das und verschweigen hier auch konsequent das enervierende Ziehen im rechten Ellbogengelenk, seit heute Mittag. Ob es von der Funkmaus herrührt und ihren millimetergenauen Steuerungen Tag für Tag und Nacht für Nacht, gewohnheitsmäßig; oder eher vom außergewöhnlichen Transport eines schließlich doch nicht passenden Sprungrahmens vom Sperrmüll ein paar Häuser weiter in den Bettkasten meines jüngsten Sohnes? Es ist schließlich einerlei.

Mein Herz? Dass das noch immer unverdrossen seinen Dienst tut, es ist mehr als ein Wunder. Trotz zwanzig Gauloises und täglicher Weißweinintoxikation? Na, immerhin steuere ich mit Betablockern und Hydrochlorothiazid dagegen.

Unvernünftig? Mag sein. Die Vorstellung aber, dass jeder Tag mein letzter sein könnte, und zwar nicht rein theoretisch, sondern aus immer triftiger werdenden Gründen; nämlich wegen der Folgen einer rücksichtslos ungesunden Lebensweise, die sich tagtäglich deutlicher und schmerzvoller bemerkbar machen – diese Vorstellung inspiriert ungemein.

Würfelwürfe

Thursday, 29. May 2008

wurfelbrett

Es gibt für das, was ich hier versuche, offenbar bisher noch keine taugliche Gattungsbezeichnung. Der bisherige Arbeitstitel für diese Rubrik, „Journal intime“, hat mich von Anfang an nicht recht überzeugen können.

Worum soll es denn hier eigentlich gehen? Um kurze Prosastücke, fokussiert und zugleich weit ausholend, vom Fernblick inspiriert und in den kleinen Einzelheiten mikroskopisch genau, geschliffen und geschärft bis ins letzte Detail, zugespitzt auf den jeweils einen, grundsätzlichen Punkt. (Dass ich von diesem Ziel noch weit entfernt bin, muss mir niemand sagen. Ich probiere und experimentiere. Schließlich betrete ich Neuland.)

Keine Aphorismen also, aber ebenso wenig Essays, gewiss auch keine „short stories“, und schlichte Tagebuchnotizen schon gar nicht.

Das Weblog meiner Träume ist schließlich, um auch diesen Holzweg abzusperren, kein klassisches Feuilleton mit seiner obligatorischen Glosse und den Kritiken zu diesem und jenem. Allein schon deshalb nicht, weil es mehr erlaubt als die alte Presse. Der Leserbrief ist tot – es lebe der Kommentar. Und weil das Blog auch mehr ermöglicht als die historisch-kritische Textausgabe. Die Fußnote ist tot – es lebe die kreative Verlinkung. Von eingestreuten Podcasts mal ganz abgesehen.

Gutenbergs gutes altes Buch liegt im Sterben – womit das Schreiben vielleicht endlich die Chance erhält, in jenes „vollkommene Buch“ zu münden, das Stéphane Mallarmé einst ersehnte. Seinem langen Gedicht Un coup de dés jamais n’abolira le hasard zu Ehren nenne ich diese Rubrik rückwirkend ab heute: „Würfelwürfe“. Der Zufall erhält seine zweite Chance.

Karnivoren

Wednesday, 28. May 2008

biene

Neulich auf der Geburtstagsparty meiner Tochter. – S., weiblich, 45 Jahre alt, kinderlos, Vegetarierin (Ausnahme: Fisch), begutachtet die Geschenke. Eine Pappdose fällt ins Auge. Inhalt: Samen für fleischfressende Pflanzen.

Aufgemacht und reingeschaut. Ein paar kleine Plastiktütchen mit Samen kommen zum Vorschein. Erst sehe ich aber gar keine Samen, bis ich ganz wenige unterstecknadelkopfgroße Körnchen entdecke.

Ausdruck meiner Enttäuschung: „Das ist aber spärlich!“ Dann, nach kurzem Bedenken: „Aber beim Menschen, wenn man ans Sperma denkt, ist es ja auch nur ein Klacks.“ Darauf S., schlagfertig wie immer: „Bei T. aber nicht.“ (T. ist ihr Ehemann.)

Darauf hätte ich, männlich, 51 Jahre alt, Vater von fünf Kindern und Allesfresser (Ausnahme: Muscheln und Schnecken), nun ebenso schlagfertig antworten können: „Na, viel gebracht hat dieser Reichtum ja nicht!“ Aber ich verkneife mir solche Repliken neuerdings, seit ich bemerkt habe, dass diese Zurückhaltung meiner Kreativität zuträglich ist. Statt ein Bonmot abzusondern, das nahezu ungehört auf einer Party verpufft und bloß Zwietracht sät, lasse ich die Erinnerung an Schnappschüsse dieser Art lieber drei Tage lang gären und fixiere sie dann im Säurebad meines Journal intime.

So trägt jeder und jede zum Aussterben unserer Art bei: der eine, indem er sich was erlaubt, die andere, indem sie sich was verbietet. Die lachenden Dritten sind am Ende die fleischfressenden Pflanzen.

Gizeh (V)

Tuesday, 27. May 2008

lolita

Was hat es nun aber mit dem sonderbaren Namen des Frotteurs aus Rouen auf sich? Humbert kann sowohl ein Vorname (zwei Grafen von Savoyen hießen z. B. so, der jüngere wurde sogar heilig gesprochen) als auch ein Nachname sein. (Claas Hugo Humbert etwa war ein deutsch-französischer Romanist, der mit Victor Hugo korrespondierte.)

Als ich den Namen Humbert in Flauberts Reisetagebüchern las, musste ich unwillkürlich an jene ebenso berühmte wie zwielichtige Gestalt der Weltliteratur denken, die sowohl mit Vor- als auch mit Nachnamen Humbert heißt: an den pädophilen Helden in Vladimir Nabokovs Roman Lolita (1955).

Leider war ich nicht der Erste, der diesen Gedanken hatte. Kilroy war längst schon da gewesen. „Ist es nicht vielleicht ein bemerkenswerter historischer Zufall,“ so fragt Julian Barnes in seinem bereits zitierten Roman Flaubert’s Parrot, „daß der bedeutendste europäische Romancier des neunzehnten Jahrhunderts bei den Pyramiden die Bekanntschaft einer der berüchtigtsten Romanfiguren des zwanzigsten Jahrhunderts machen sollte? Daß Flaubert, noch feucht vom Knaben-Aufspießen in Kairos Badehäusern, auf den Namen von Nabokovs Verführer minderjähriger amerikanischer Mädchen stoßen sollte? Und weiter, welchen Beruf hat diese einläufige Version von Humbert Humbert? Er ist ein frotteur. Wörtlich: ein französischer Schleifer; aber auch einer jener sexuell Abartigen, die sich gern in der Menge reiben.“ (A. a. O., S. 98.)

Was sagt denn die Nabokov-Forschung dazu? Ihr blieb, soweit ich es übersehe, dieser „bemerkenswerte historische Zufall“ bisher verborgen. Der Autor der Lolita selbst, so wissen die Exegeten wohl zu berichten, habe auf den „unangenehmen doppelten Klang“ des Namens Humbert Humbert hingewiesen, der zugleich ein Adelsname sei und an das Worte „humble“ (bescheiden oder demütig), an das spanische „hombre“ (Mann), an das französische „ombre“ (Schatten) und an das Kartenspiel L‘Hombre erinnere. Für die Nabokovianer ist die Sonne über den Pyramiden offenbar noch nicht aufgegangen.

Ich bin schon etwas neidisch auf Barnes’ unbestreitbares Prioritätsrecht bei dieser sensationellen Entdeckung, das muss ich unumwunden zugeben. Aber einen frotteur als „Schleifer“ zu bezeichnen, und zwar noch angeblich „wörtlich“, das ist ja nun doch ziemlich daneben. Wohl kann man einen Parkettboden bekanntlich auch abschleifen. Diese radikale Maßnahme wird aber erst dann nötig, wenn man den Boden zuvor nicht regelmäßig hat einwachsen und polieren lassen – nämlich von einem Frotteur. Mit dieser ungeschliffenen Übersetzung wagt sich Barnes (oder sein Übersetzer Michael Walter) jedenfalls auf glattes Parkett.

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Monday, 26. May 2008

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Gizeh (IV)

Sunday, 25. May 2008

gizeh

Auch der literaturbeflissene Arzt im Ruhestand Geoffrey Braithwaite, Ich-Erzähler in Julian Barnes’ Roman Flaubert’s Parrot (1984), hat sich seine Gedanken gemacht, was genau in der Morgendämmerung des 8. Dezember 1849 auf dem Plateau der Cheopspyramide geschah: „Die aufgehende Sonne ließ die obersten Steine der Pyramide aufleuchten, und als Flaubert an sich hinunterblickte, bemerkte er eine kleine festgepinnte Geschäftskarte. ,Humbert, Frotteur‘, stand dort zu lesen sowie eine Adresse in Rouen.“ (Julian Barnes: Flauberts Papagei. Roman. A. d. Engl. v. Michael Walter. Zürich: Haffmans Verlag, 1987, S. 97.) – Merkwürdig, in meiner Übersetzung der Reisetagebücher von Flaubert ist von Rouen nichts zu lesen.

Braithwaite fährt fort: „Ein Moment perfekt ins Ziel gelenkter Ironie. Und ein modernistischer Moment: Wie hier das Alltägliche ins Erhabene hineinpfuscht, ist doch die Art von Wechselspiel, die wir als typisch für unser abgebrühtes, nicht übers Ohr zu hauendes Zeitalter beanspruchen. Wir danken Flaubert, daß er das aufgegriffen hat; die Ironie existierte gewissermaßen erst dann, als er sie wahrnahm. Andere Besucher hätten in der Geschäftskarte vielleicht nur ein Stück Abfall gesehen – sie hätte jahrelang dort bleiben können, die Stecknadeln wären langsam vor sich hin gerostet; aber Flaubert verlieh ihr eine Funktion.“ (Ebd., S. 97 f.) – In einem Punkt irren Braithwaite resp. Barnes. Es gab zuvor mindestens einen „anderen Besucher“, sensibel genug für die Empfindung, dass an diesem erhabenen Ort Werbung für Bohnerwachs und fürs Bohnern zu treiben einem Akt kaum noch zu überbietender Profanierung gleichkommt. Sein Name: Gérard de Nerval.

Der folgende Absatz von Braithwaite resp. Barnes gibt mir ein Rätsel auf: „Jetzt kommen wir zur Ironie der Ironie. Aus Flauberts Reisenotizen geht hervor, daß Monsieur Frotteur die Geschäftskarte nicht selbst dort festgepinnt hat; der wendige und vorsorgliche Maxime Du Camp brachte sie an; er war in der violetten Nacht vorausgeflitzt und hatte diese kleine Mausefalle für seines Freundes Sensibilität aufgestellt. Mit diesem Wissen verschieben sich die Gewichte in unserer Reaktion: Flaubert wird schwerfällig und berechenbar; Du Camp wird zum geistreichen Kopf, zum Dandy, der dem Modernismus ein Schnippchen schlägt, noch bevor sich der Modernismus erklärt hat.“ (Ebd., S. 98.) – Ich konnte trotz gründlicher Suche keine Stelle in Flauberts Reisenotizen entdecken, aus der dergleichen hervorginge. Vielleicht handelt es sich ja nur um einen kleinen Flüchtigkeitsfehler und die Quelle für diese Täuschungsgeschichte heißt in Wahrheit Les lettres d’Egypte (1965)? Der nächste Absatz aus Flauberts Papagei könnte jedenfalls darauf hindeuten:

„Greifen wir zu Flauberts Briefen, dann entdecken wir, daß er einige Tage nach dem Ereignis seiner Mutter über die sublime surprise dieser Entdeckung schreibt. ,Und wenn ich mir überlege, daß ich diese Karte eigens von Croisset mitgenommen und sie nicht einmal selbst dort angebracht habe! Der Halunke [Maxime Du Camp] hat meine Vergeßlichkeit ausgenutzt und diesen Glücksfall von Geschäftskarte auf dem Boden meines Chapeau claque entdeckt.‘ Es wird also noch merkwürdiger; als Flaubert von zu Hause aufbrach, bereitete er schon die special effects vor, die dann später als so überaus typisch für seine Art, die Welt wahrzunehmen, wirken würden.“ (Ebd., S. 98 f.)

Da ich – offenbar im Unterschied zu Braithwaite resp. Barnes – die ältere Stelle von Nerval kenne („[…] ein Bohnerwachshändler von der Piccadilly hat sogar auf einem ganzen Block sorgfältig die Vorzüge seiner durch das improved patent von London geschützten Erfindung eingravieren lassen.“), wage ich mal die Vermutung, dass Flaubert sie ebenfalls kannte und durch sie dazu inspiriert wurde, in seinem Chapeau Claque die Visitenkarte des Bohnerers aus Rouen von Croisset auf die Spitze der Pyramide zu tragen. Noch einmal Braithwaite resp. Barnes: „Ironien breiten sich aus; Realitäten weichen zurück. Und, nur mal interessehalber, warum eigentlich nahm er seinen Chapeau claque mit zu den Pyramiden?“ – Pourquoi pas!

Gizeh (III)

Saturday, 24. May 2008

miserables

Wer kennt sie nicht, Les Misérables, seit sie zu Beginn der 1980er-Jahre die Musical-Bühnen der Welt eroberten. Seither haben mehr als fünfzig Millionen Menschen das Stück gesehen, das in 38 Ländern und 227 Städten zur Aufführung kam. Damit es alle verstanden, wurde es in 23 Sprachen übersetzt. Auf den Programmzetteln konnte man lesen, dass es auf dem gleichnamigen Roman von Victor Hugo „basiert“. Diesen Roman, der in der vollständigsten deutschen Übersetzung 1500 Seiten dick ist, auf eine Spieldauer von drei Stunden zu verkürzen, das ist ungefähr so, als wollte man die Schöpfungsgeschichte in einem einzigen Satz zusammenfassen: Es werde Licht!

Wenn nach einer der zahlreichen Aufführungen des Spektakels von Claude-Michel Schönberg (Musik) und Alain Boublil (Libretto) das Licht angeht, dann wissen die Zuschauer weniger als nichts von diesem Jahrhundertbuch. Der sing- und tanzbare Extrakt, der sich mit viel Pomp und wenig Geist zum Ticketpreis von 30 Euro für mittlere Plätze farbenprächtig und klangvoll über das nun frenetisch applaudierende Publikum ergossen hat, ist im Lichte der Lektüre von Victor Hugos Roman aus dem Jahre 1862 betrachtet nur der schwache Abglanz eines fahlen Schattens: ein Nichts. Zum gleichen Preis wären in jeder gut sortierten Buchhandlung zehnmal mehr Stunden intensivsten Lesevergnügens zu erstehen gewesen. Aber lassen wir das, man kann niemanden zu seinem Glück zwingen.

Im ersten Buch des dritten Teils seines Romans, „Paris in einem Sonnenstäubchen“ überschrieben, singt Hugo das Loblied auf die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“, wie Walter Benjamin Paris einmal genannt hat: „Paris kennt keine Grenzen. […] Wie wunderbar ist solch eine Stadt! […] Paris besitzt einen unübertrefflichen Frohsinn. […] Es ist gewaltig. […] Es macht aus seiner Logik den Muskel des einmütigen Willens. Es vervielfacht sich in allen Formen des Erhabenen. […] Es ist überall, wo die Zukunft anbricht, […] es strahlt das Hochherzige über die Erde aus. […] Seine Bücher, sein Theater, seine Kunst, seine Wissenschaft, seine Literatur und seine Philosophie sind die Handbücher der Menschheit. […] Es läßt seine Sprache die ganze Welt sprechen, und diese Sprache wird der Logos. Es bildet in allen Geistern den Fortschrittsgedanken heraus. Die befreienden Lehren, die es erdenkt, tragen die Generationen im Herzen, und mit der Seele seiner Denker und Dichter sind seit 1789 alle Helden aller Völker gezeugt.“ (Victor Hugo: Die Elenden. A. d. Frz. v. Paul Wiegler u. Wolfgang Günther. Berlin: Verlag Volk und Welt, 1990, Zweiter Band, S. 23 – 25.)

Wie will man das singen? Wie will man das tanzen? Und wie soll man den plötzlichen Bruch auf einer Musicalbühne darstellen, der mit dem nächsten Satz wie Blitz und Donner mitten in diese Lobeshymne niederfährt. Dieser Satz lautet in der Übersetzung: „Demungeachtet führt es sich wie ein Gassenjunge auf, und dieses gewaltige Genie, das Paris heißt und die Welt durch sein Licht verändert, schmiert mit einem Stück Kohle Bouginiers Nase auf die Mauer des Theseustempels und schreibt ,Crédeville ist ein Dieb‘ auf die Pyramiden.“

Da hat sich also Victor Hugo aus Gérard de Nervals Voyage en Orient (1851) bedient und dabei kurzerhand das anonyme Grafitto der Nase von Bouginier – wer mag das wohl gewesen sein? – von der Plattform der Cheopspyramide bei Gizeh aufs athenische Hephaiston verlegt, das auch Thesaion oder Theseum genannt wird. So ein kleiner diebischer Gassenjunge und Fälscher, dieser Victor Hugo!

Gizeh (II)

Friday, 23. May 2008

birne-louis

Was meine Bibliothek mal wieder hergibt! Eben entdecke ich, dass auch Gustave Flaubert die Cheopspyramide erklommen hat. Er brach in Gesellschaft seines Freundes Maxime Du Camp als 28-Jähriger Anfang November 1849 zu seiner Orientreise auf, nur sieben Jahre nach Gérard de Nerval und auf der gleichen Route: von Marseille aus mit Zwischenaufenthalt auf Malta über Alexandria nach Kairo. Am Samstag, dem 8. Dezember in der Frühe beginnt der Aufstieg des korpulenten und schwächlichen Stubenhockers auf die Cheopspyramide:

„Von den Steinen, die in einer Entfernung von zweihundert Metern die Größe von Pflastersteinen zu haben scheinen, sind selbst die kleinsten drei Fuß hoch; meist gehen sie einem bis an die Brust. Wir steigen an der linken Kante hinauf (der, die der Chephren-Pyramide gegenüber liegt); die Araber schieben mich, ziehen mich, ich kann kaum vorwärts; es ist zum Verzweifeln vor Anstrengung. Ich mache fünf oder sechs Mal unterwegs halt; Maxime ist vor mir und kommt schnell vorwärts. Endlich lange ich oben an. Wir müssen eine gute halbe Stunde auf den Aufgang der Sonne warten. […] (Auf der östlichen Seite finde ich ,Humbert Frotteur‘, mit Stiften an den Stein geheftet. – Erregter Zustand Maximes, der das sogleich herbeigeholt und vor Atemlosigkeit umzukommen geglaubt hatte.) […] Man ärgert sich über die Menge Namen von Dummköpfen, die überall angeschrieben sind: oben an der großen Pyramide steht ein Buffard, Rue Saint-Martin 79, Tapeten-Fabrikant, in schwarzen Buchstaben; ein enthusiastischer Engländer hat ,Jenny Lind‘ angeschrieben; weiter sieht man eine Birne, die Louis-Philippe vorstellt […].“ (Gustave Flaubert: Die Reisetagebücher 1849 – 1850. A. d. Frz. v. Eduard Wilhelm Fischer. Leipzig: Gustav Kiepenheuer Verlag, 1993, S. 71 – 75.)

Wie sich die Bilder gleichen. Was aber ist genau ein Frotteur? Nach Meyers Konversationslexikon ist das „einer, der frottiert, auch den Fußboden bohnt“ (Leipzig und Wien: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1885 – 1892, 6. Bd., S. 754). Erinnert insofern Monsieur Humbert nicht sehr an den namenlosen „Bohnerwachshändler von der Piccadilly“ bei Nerval? Welch merkwürdiger Zufall!

Die schwedische Nachtigall Jenny Lind, für die u. a. Hans Christian Andersen längere Zeit entflammt war, hatte seit ihrem ersten Auftritt in Berlin 1844 in halb Europa als Opernsängerin für Furore gesorgt. Dass Louis-Philippe, der letzte König der Franzosen, vorzugsweise als Birne karikiert wurde, ist ja allgemein bekannt.

Wie sagt doch der Prediger Salomo: „Was geschehen ist, wird wieder geschehen, / und was man getan hat, wird man wieder tun: / Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ In den 1980er-Jahren war es ein deutscher Herrscher, dessen Kopfform die Karikaturisten an das Kernobst erinnerte. Und als vor wenigen Jahren der Reisende Rolf Potts die Stufenpyramide von Sakkara besuchte, musste er feststellen, dass Graffitikünstler noch immer ihre respektlosen Spuren auf den ehrwürdigen Zeugnissen des Altertums hinterlassen: „At Zoser‘s step pyramid, my thoughts are interrupted by a fresh carving in the limestone near the bottom: ‘Edward, 1/1/2000,’ it reads. And beneath that, ‘Fuck you.’“ (Uncovering Cairo, 2003.)

Was ist das denn jetzt?

Thursday, 22. May 2008

insekt

Wann immer sich in meine Arbeit Routine einschleicht, werde ich misstrauisch. Das kann es doch noch nicht gewesen sein. Dann lege ich die Latte, wenngleich nicht ohne Bangigkeit, etwas höher. Die täglichen Intimitäten fließen mir mittlerweile verdächtig leicht aus den Flossen in die Tasten. Höchste Zeit also, eine neue Kategorie anzulegen.

Der Erfolgsroman des zwielichtigen Freikorpskämpfers Ernst von Salomon ist Grund genug, meinen Hürdenlauf über die Interrogativpronomina – wer, wen, wem, welche, wessen, was, wann, warum, wieso, weshalb, wozu, womit, wodurch, wie, wo, woher, wohin, wieviel – vorzugsweise englisch zu benamsen.

Andererseits sind solche Vorbehalte doch selbst wieder fragwürdig. Schließlich ist der Verfasser des ersten Bestsellers der Nachkriegszeit zehn Jahre später reumütig bei den Kranichfaltern eingekehrt. Diese Frage bleibt vorläufig offen – der Titel steht dennoch fest: Questionnaire. Eine unregelmäßige Irritation.

Gizeh (I)

Thursday, 22. May 2008

gerard_de_nerval

Den Reisekoffer habe ich vor Jahren schon zum Blumenkasten umfunktioniert. In Istanbul war es mir viel zu heiß und in Oslo viel zu kalt. Außerdem fehlte mir meine Bibliothek, vom ersten bis zum letzten Tag jeder meiner wenigen touristischen Eskapaden. Neapel sehen und sterben? Ach was, dieses widerstrebt mir fast noch mehr als jenes, sein einziger Vorteil ist demgegenüber seine Vermeidbarkeit. Zudem spart meine anachronistische Immobilität Geld und schont die Umwelt. Auch Psalm 37 bekräftigt mich in meiner Reiseaskese: „Hoffe auf den Herrn und tue Gutes, / bleibe im Lande und nähre dich redlich.“

Das durchs Daheimbleiben gesparte Geld habe ich in den Erwerb kostbarer und köstlicher Bücher gesteckt, auch in etliche Reisebeschreibungen früherer Zeiten, als die heute üblichen heuschreckenschwarmartigen Heimsuchungen aller bekannten Sehenswürdigkeiten unseres Planeten noch nicht zur globalen Erwärmung beitrugen und Treibhauseffekte allenfalls in den Orangerien des europäischen Hochadels zu beobachten waren.

So brach Anfang des Jahres 1843 ein gewisser Gérard Labrunie, der sich seit 1831 Gérard de Nerval nannte und unter diesem Namen in die Literaturgeschichte eingegangen ist, zu einer Reise in den Orient auf. Zwei Jahre zuvor hatten sich erste Anfälle von Wahnsinn bei dem Dichter und Faust-Übersetzer bemerkbar gemacht. Von Marseille aus erreicht er über Malta Alexandria und Kairo. Bevor er sich von dort aus Mitte Mai 1843 auf den Weg nach Beirut begibt, besucht er noch die Pyramiden von Gizeh. „Je näher man herankommt, desto kleiner werden die Kolosse. Das ist ein perspektivischer Effekt, der zweifellos daher rührt, daß sie ebenso breit wie hoch sind. Erreicht man jedoch ihren Fuß, den Schatten dieser von Menschenhand geschaffenen Berge, ergreift einen Bewunderung und Schrecken zugleich. Um zur Spitze der ersten Pyramide zu gelangen, heißt es eine Treppe zu erklimmen, von deren Stufen jede ungefähr einen Meter hoch ist. […] Ich bekam vier Leute zu meiner Führung und um mir während meines Aufstiegs behilflich zu sein. Zuerst konnte ich mir nicht recht vorstellen, wie ich Stufen erklimmen sollte, von denen mir allein die erste bis zur Brust reichte. Doch im Handumdrehen hatten sich zwei der Araber auf dieses gigantische Fundament geschwungen und meine Arme ergriffen. Die beiden anderen schoben mich unter den Achseln an, und alle vier sangen bei jeder Bewegung dieses Manövers im Gleichklang den mit dem alten Refrain Eleyson endenden arabischen Vers. Ich zählte auf diese Weise zweihundertundsieben Stufen, und es dauerte kaum mehr als eine Viertelstunde bis zur Plattform. […] Die Aussicht von dieser Plattform ist überwältigend, wie sich denken läßt. […] Hört man jedoch mit dem Bewundern auf und läßt seine Blicke über die Steine der Plattform wandern, wird dieses Übermaß an Begeisterung sogleich gedämpft. Alle Engländer, die sich an diesen Aufstieg heranwagten, haben natürlich ihre Namen in die Steine eingekritzelt. Spekulanten sind auf den Gedanken verfallen, der Öffentlichkeit ihre Adresse zu hinterlassen, und ein Bohnerwachshändler von der Piccadilly hat sogar auf einem ganzen Block sorgfältig die Vorzüge seiner durch das improved patent von London geschützten Erfindung eingravieren lassen. Es erübrigt sich zu sagen, daß man hier auch den heute so aus der Mode gekommenen Crédeville voleur antrifft, die Karikatur von Bouginier und andere verrückte Dinge, die unsere reisenden Künstler als Kontrast zur Monotonie der großen Denkmäler dort angebracht haben.“ (Gérard de Nerval: Reise in den Orient. Werke I. A. d. Frz. v. Anjuta Aigner-Dünnwald. München: Winkler Verlag, 1986, S. 258-261.)

Mit dem Buch, aus dem dieses lange Zitat entnommen ist, wollte sein Autor sich selbst und der literarischen Welt in Paris beweisen, dass er bei völliger geistiger Gesundheit wäre und die Wahnsinnsanfälle nur vorübergehender Natur gewesen seien. Doch nach seiner Heimkehr, auf den Tag genau ein Jahr nach seinem Aufbruch, stellten sich bald erneut geistige Zusammenbrüche ein. Bei klirrender Kälte erhängte er sich in der Nacht vom 25. auf den 26. Januar 1855 in der düsteren, heute nicht mehr existierenden Rue de la vieille Lanterne – allerdings wohl nicht an einer Laterne, wie gelegentlich zu lesen ist, sondern an einem Gitter.

Gérard de Nerval wurde heute vor 200 Jahren in Paris geboren.

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Wednesday, 21. May 2008

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Vanitas

Tuesday, 20. May 2008

eier

Ich habe mir zeitlebens etwas darauf zugute gehalten, den scheinbar widersprüchlichsten Geistesgrößen der Vergangenheit und Gegenwart mit gleicher Aufgeschlossenheit zu begegnen. Warum sollte ich nicht Platon und Aristoteles, Hegel und Schopenhauer, Marx und Bakunin, Karl Kraus und Alfred Kerr, Thomas Mann und Theodor Lessing, André Breton und Antonin Artaud gleichermaßen mein schlichtes Herz und meinen neugierigen Geist öffnen? Mochten sie einander im Leben noch so sehr spinnefeind gewesen sein – die Nachwelt durfte es besser wissen. Und heißt es nicht auch: Gegensätze ziehen sich an?

Unter den Autoren der mir vorangehenden Generation schienen mir Jörg Schröder (Jahrgang 1938) und Walter Kempowski (Jahrgang 1929) immer ein besonders interessantes Gegensatzpaar. Beide zogen mich in ihren Bann, durch ihre obsessive literarische Produktion, durch ihre Außenseiterrolle im Literaturbetrieb, durch die vielen Feinde, die sich an ihnen verschlissen und sich dabei auf sehr unterhaltsame Weise lächerlich machten. Zu beiden hatte ich vorübergehend persönlichen Kontakt. Und zu beiden stellte ich mir vor, sie würden es mir schwer verübeln, wenn sie von meiner freundlich-aufgeschlossenen Haltung gegenüber dem jeweils anderen wüssten.

An beiden erkannte ich bald ein gerüttelt Maß Eitelkeit, jene trotzige Selbstbehauptung, die keinen Besseren neben sich dulden kann. Aber das verzieh ich ihnen gern, denn ohne diese archaische Triebkraft hätte wohl kein wirklich Großer sein Werk gegen die ach so trivialen Widerwärtigkeiten des Alltags vollbringen können. Der Zufall will es, dass jetzt diese sich scheinbar so fremden Solitäre der deutschen Nachkriegsliteratur in ihren jüngsten Werken ihre Eggheads aneinander stoßen. Ich überlasse es dem geneigten Leser zu entscheiden, welche Schale dabei bricht.

Kempowski schreibt unterm Datum vom 12. November 1991 in seinem soeben posthum veröffentlichten Tagebuch Somnia: „Wellershoff sagte, Jörg Schröder sei damals ein unglaublich geltungsbedürftiger Mensch gewesen. (Ich lese gerade wieder [Schröders Buch] Siegfried). Besaß ein Schloß und einen handzahmen Leoparden. KF [Kempowskis Sohn Karl-Friedrich] hat ihn auf der [Frankfurter Buch-]Messe mal angesprochen, da war er ganz vernünftig.“ (S. 454) – Und Schröder bechreibt in seiner eben erschienenen elften Folge der „Schwarzen Serie“ von Schröder erzählt den im vorigen Jahr verstorbenen Kempowski als einen, „den ich als radikalen Chronisten bewundere, wegen seines unbestechlichen Blicks und – kein Gegensatz! – trockenen Humors. Außerdem schätzte Kempowski Siegfried und schanzte mir 1981 für Cosmic sogar den Bertelsmann-Club-Preis zu, immerhin dreißigtausend Mark. Den Preis konnte ich nicht annehmen, obwohl wir das Geld damals gut hätten gebrauchen können. […] Um so betrüblicher fand ich, daß Walter Kempowski, der jahrelang in der Presse rauf und runter gelobt wurde, dem eine große Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste ausgerichtet wurde, dessen Werke man verfilmte – sie liefen zigmal wiederholt im Fernsehen –, dessen Verleger sogar das ökonomisch wahnwitzige Echolot-Projekt realisierte, noch immer unzufrieden war. Mit dem Sekundärmaterial zu diesem Autor kannst du vierzig Marbacher Kästen füllen, aber das war ihm alles nicht genug. Er beklagte sich bitter, weil man ihm den Büchner-Preis vorenthalten hatte. Grämlich moserte er noch wenige Wochen vor seinem Tode, daß er nicht so berühmt sei wie Grass und Walser. Ja, da hätte er eben schlechter schreiben müssen!“ (Eitelkeit auf Eitelkeit, S. 29 f.)

Na, wenn das kein beschauliches Stelldichein ist, über den Tod hinaus. Ich liebe sie beide, Walter Kempowski und Jörg Schröder. Und ich nenne diese beiden Königskinder des Trotzes und der Eitelkeit – kein Gegensatz! –, die zueinander nicht kommen konnten, mit verschmitztem Übermut in einem Atemzug: ganz Große!

Adolf Goers

Monday, 19. May 2008

goers

Nachdem Hans Siemsen im Januar 1934 die Flucht nach Paris geglückt war, lernte er dort im Februar 1936 den ebenfalls aus Deutschland geflohenen 21-jährigen Walter D. kennen und verliebte sich in ihn. Im Jahr darauf verarbeitete Siemsen dessen Erlebnisse in der Hitlerjugend zu seinem letzten Buch: Die Geschichte des Hitlerjungen Adolf Goers. Obwohl sich Alfred Döblin für eine Publikation verwendet, erscheint dieser entlarvende Bericht über die Methoden des NS-Staates bis zum Kriegsende lediglich in einer englischen Übersetzung (Hitler Youth, 1940). Als der Düsseldorfer Komet-Verlag 1947 endlich die deutschsprachige Originalausgabe auf den Markt bringt, findet das Buch kaum noch Leser. Die Deutschen haben nach dem verlorenen Krieg andere Sorgen und wollen ihren schrecklichen Irrtum so schnell wie möglich vergessen.

Über die Geschichte der Hitlerjugend gibt es mittlerweile mehrere ausführliche Monographien, die die Organisationsstruktur und die demagogischen Erfolgsrezepte dieser nationalsozialistischen Jugendorganisation in allen wesentlichen Details transparent werden lassen. Siemsens Erfahrungsbericht eines Betroffenen übertrifft jedoch in seiner subjektiven Unmittelbarkeit, in der beklemmenden Schilderung der Gewissensnöte eines Heranwachsenden naturgemäß jede dieser nüchternen, streng sachbezogenen Darstellungen der HJ.

Zudem thematisiert das Buch, für seine Zeit ein zusätzliches Wagnis, die Homosexualität als verdrängte und doch untergründig wirksame Triebkraft solcher männerbündischen Zusammenschlüsse. „Ich komme nun zu einem peinlichen und heiklen Kapitel.“ So leitet Siemsen diese Passagen gegen Ende seines letzten Buches ein. „Ich spreche nicht gern davon. Aber es muß sein. Die Homosexualität spielt in der HJ eine große, eine wichtige, nicht eine nur zufällige Rolle.“ (Dass Klaus Theweleit 1977 in seinen Männerphantasien diese Passagen von Siemsens Buch nicht berücksichtigt hat, kann ich mir nur damit erklären, dass er es schlicht nicht kannte.)

Vielfach musste Siemsen Personennamen fälschen, um niemanden, der noch im „Dritten Reich“ lebte, zu gefährden. Manchmal trog ihn auch sein Gedächtnis, so z. B. als er den jugendlichen Hauptdarsteller im Propagandafilm Hitlerjunge Quex (1933) Jürgen Ried nennt. Das war vielmehr der Titel eines Romans von Erich Ebermayer (1931). Tatsächlich hieß der spätere Geliebte des Reichsjugendführers Baldur von Schirach Jürgen Ohlsen. An vielen überprüfbaren Stellen beweist der Autor hingegen ein gutes Gedächtnis für Namen und Zusammenhänge, so im Falle des ohne sein Wissen der SS einverleibten Turnierreiters Axel Holst. Man kann Siemsen vertrauen, dass seine Geschichte des Hitlerjungen Adolf Goers größtenteils auf Tatsachen beruht.

Im Juni 1941 traf Hans Siemsen, dem zuvor mit knapper Not die Flucht von Paris nach Marseille gelang, in New York ein. Auch sein Freund Walter D. entkam über den Atlantik den Verfolgern, landete aber in Kuba. Die Trennung von seinem Geliebten gab Siemsen vermutlich den Rest. Er verfiel dem Alkohol, kehrte erst Ende der 1940er-Jahre nach Deutschland zurück und starb am 23. Juni 1969 in einem Altenheim der Arbeiterwohlfahrt in Essen-Holsterhausen, ohne je wieder eine Zeile veröffentlicht zu haben.

Heftig

Sunday, 18. May 2008

Alle paar Jahre überraschen mich meine Söhne mit einem neuen Adjektiv zur modischen Bekräftigung ihrer Begeisterung oder Entrüstung – wobei nicht immer trennscharf zwischen diesen gegensätzlichen Gemütsbewegungen zu unterscheiden ist.

Ob „geil“ oder „cool“ oder „krass“ – unsereiner kann selbst aus dem Vergleich des jeweiligen kontextuellen und situativen Umfelds keine Schlussfolgerungen auf die präzise Bedeutung dieser jugendsprachlichen Modewörter ziehen.

„Voll peinlich“ finden die Nachwachsenden es, wenn wir Gruftis solche Vokabeln in unseren altertümlichen Sprachschatz übernehmen. Das kann ich gut verstehen, oder, um ein Modewort aus meiner Jugend zu gebrauchen: nachvollziehen. Solche linkischen Anbiederungsversuche der Elterngeneration nötigten mir auch allenfalls ein müdes Lächeln ab, als ich im Alter meiner Söhne war.

Jemand aus der Großvätergeneration, der das noch nicht begriffen zu haben scheint, kündigt nun an, die Welt in Bälde mit einer „heftigen Rede“ aus den Fugen bringen zu wollen. Sein Name? Osama bin Laden, Jahrgang 1957. Da klingeln mir doch die Ohren. Finden nicht meine Söhne seit einigen Monaten so allerlei „ziemlich heftig“?

Aber vermutlich handelt es sich hier um einen Übersetzungsfehler – oder der Autor des Spon-Artikels ist ein Praktikant, Jahrgang 1987. Ich persönlich werde das Adjektiv „heftig“ jedenfalls auch künftig nur in einem einzigen kontextuellen und situativen Umfeld gebrauchen: wenn es verhältnismäßig stark regnet.

Achtzüger

Sunday, 18. May 2008

Neulich gelang mir in der Schacharena als Schwarzer ein Matt in nur acht Zügen, gar gegen einen Kontrahenten mit höherer ELO-Zahl. Ich begnete dem Königsspringerspiel

1. e2 – e4 1. e7 – e6

2. Sg1 – f3

mit der Philidorverteidigung

2. d7 – d6,

benannt nach dem berühmten französischen Schachtheoretiker François-André Dancian Philidor (1726 – 1795). Die übliche Erwiderung hierauf wäre 3. d2-d4 gewesen, aber mein Gegner zog stattdessen

3. Lf1 – c4.

Dies hat, wie ich später nachlas, ein gewisser Rodzinski 1913 in Paris gegen den späteren Weltmeister Aljechin versucht, und wie Letzterer antwortete ich mit

3. Sb8 – c6.

Statt nun aber wie seinerzeit Rodzinski mit 4. c2 – c3 fortzusetzen, spielte mein Gegner den Damenbauern:

4. d2 – d3.

Anschließend zeigte sich wieder einmal, wie perplex routinierte Spieler werden können, wenn die in grauer Theorie ausgetretenen Pfade verlassen werden:

4. Sg8 – f6

5. Sf3 – g5 5. Sf6 – g4

6. Sg5 x f7 6. Dd8 – h4

7. g2 – g3 7. Dh4 – f6

8. Sf7 x h8 8. Df6 x f2 matt.

Einerseits schade, denn es hätte mich schon interessiert, wie die Partie nach einem sinnvolleren weißen Zug wie 8. f2 – f3 weitergegangen wäre.

Andererseits freut einen ja ein solcher Husarenstreich abseits der Hauptkampflinien doch über alle Maßen. Dilettantenschach ist in seltenen Glücksfällen und auf unerforschten Nebenwegen wie diesem gelegentlich amüsanter als das schnurgerade Spiel der Großmeister.

[Diesen Beitrag widme ich Gerd Gockel-Feldmann.]

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Saturday, 17. May 2008

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Siemsen über Chaplin

Thursday, 15. May 2008

chaplin

Vorgestern habe ich so allerlei von Hans Siemsen aus Antiquariaten über ZVAB bestellt. Endlich war zum Beispiel die dreibändige Werkausgabe aus dem Essener TORSO-Verlag im Angebot, nicht billig, aber in bester Erhaltung, nahezu wie neu. Eine Stunde später schellte das Telefon. Ein Essener Antiquar war dran und fragte, ob ich das eben georderte Chaplin-Bändchen von Siemsen nicht persönlich bei ihm abholen wolle. Schließlich seien es ja nur zehn Minuten zu Fuß und so würde ich mir doch die Portokosten sparen. Das nenne ich Service.

Gestern dann hielt ich das noch nicht mal 50 Seiten starke Heftchen von 1924 in Händen, die erste Veröffentlichung über Chaplin in deutscher Sprache überhaupt, erschienen im Feuer-Verlag zu Leipzig, mit 18 Bildern nach Film-Ausschnitten, „Der Sammlung Meister zweiundzwanzigster Band“. Der vordere Umschlag war leicht knickspurig, der schmale Rücken etwas lädiert, der Preis aber völlig angemessen.

Ich setzte mich auf eine Parkbank im nahen Stadtgarten und las: „Ich muß von Osnabrück nach Bremen fahren.“ Das ist als erster Satz in einem Büchlein über den berühmtesten Stummfilmstar der Welt einigermaßen ungewöhnlich. Weiter geht ’s: „Und ich habe nicht soviel Geld, daß ich D-Zug fahren kann.“ Aha, da lässt sich ein Zusammenhang immerhin vorstellen. Charlie tritt ja in seinen Slapsticks vorzugsweise als Habenichts auf. Gibt es nicht einen Film, in dem er als Hobo, als „schwarzer Passagier“, auf dem Tender durch die Lande reist?

Nun aber folgen Siemsens dritter und vierter Satz: „Das heißt, vielleicht habe ich soviel Geld. Ich darf es nur nicht für den D-Zug ausgeben.“ Indem ich das lese, sehe ich den Autor an einer klapprigen Schreibmaschine sitzen, an einer ,Gabriele‘ von Triumph oder an einer ,Erika‘ von Seidel & Naumann. Nachdem Siemsen fein säuberlich und tippfehlerfrei seine ersten beiden Sätze zu Papier gebracht hat, fällt ihm ein, dass der zweite Satz eigentlich, „vielleicht“ nicht ganz den Tatsachen entspricht. Und so schreibt der um Wahrheit bemühte Schriftsteller einen dritten und vierten Satz, um die Sache zurechtzurücken.

Und heute? Ich z. B. würde den zweiten Satz im Handumdrehen auf dem Monitor löschen und nun schreiben, wie es sich tatsächlich verhielt. Aber was ginge dabei verloren! Die kleine Flüchtigkeit, deren Korrektur doch gerade den Charme dieses Erzählens ausmacht – sie verschwände auf Nimmerwiedersehen im digitalen Nirwana. Wenn ich Siemsens Prosa lese, dann wird mir bewusst, dass unser heutiger Schreibkomfort neben vielen Vorzügen auch seine Nachteile hat. Diese Umwegigkeit, diese sanften Schlenker, wie er mal rechts, mal links vom Pfad abkommt, um dann über Stock und Stein zurückzufinden – das entspricht doch eigentlich dem Wesen eines Flaneurs weit eher als die Gradlinigkeit, der Zeilengehorsam meiner disziplinierten Schreibweise am „Rechner“. Tempi passati! Wenn die Not nicht mehr herrscht, sind auch die aus ihr geborenen Tugenden unrettbar verloren.

Frauenmarathon

Wednesday, 14. May 2008

hilary

Etliche Läufer, die zwei Stunden zuvor putzmunter an den Start gegangen waren, lagen bereits keuchend am Rande der Strecke. Der weite Abstand zwischen dem Spitzenreiter und seiner Verfolgerin blieb nahezu unverändert. Selbst ihre eigenen Betreuer zuckten nur noch mit den Achseln, wenn sie von den wegelagernden Reportern nach den Gewinnchancen der Zweitplatzierten befragt wurden.

Der Blick der Verfolgerin war starr nach vorn gerichtet. Je aussichtsloser die Aufholjagd für sie wurde, desto verbissener glaubte sie an den Sieg. Sie musste jetzt siegen, sie hatte alles auf eine Karte gesetzt. Und war sie nicht schon einmal durch die Hölle völliger Aussichtslosigkeit gegangen, als niemand daran glaubte, dass sie noch die Spur einer Chance hätte, den Sieg gegen einen offenbar übermächtigen Gegner davonzutragen? Und war ihr damals denn nicht genau dieses „Unmögliche“ geglückt?

Freilich war der Unterschied nicht zu übersehen. Damals war ihr Widerpart die öffentliche Meinung gewesen, angeheizt aus dem Lager des Feindes. Jetzt aber kämpfte sie nicht gegen den eigentlichen Feind, sondern gegen einen Teamkollegen auf dem Weg zur Qualifikation für den Endlauf. Dies war schließlich erst das Semifinale, das Rennen um die Landesmeisterschaft stand ja noch bevor.

Der Mann da vorn musste sich ebenso verausgaben wie sie. Würde sie aufgeben, dann könnte er Kräfte sparen für das Finale. Aber sie konnte nicht das Handtuch werfen. „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Wer hatte das noch gesagt? Horaz? Es war ein weiter Weg gewesen bis zu diesem vorläufig zweiten Platz, den sie nur erreichen konnte, weil sie in tausend ähnlich aussichtslosen Situationen durchgehalten hatte. Und selbst wenn er längst uneinholbar vorn lag, so konnte er ja immer noch stolpern und straucheln.

Auf Leben und Tod. „Und setzet ihr nicht das Leben ein, / nie wird euch das Leben gewonnen sein.“ Aber doch hieß es auch in einem Märchen: „Etwas Besseres als den Tod findest du allemal.“ Sie hörte ihr eigenes Hecheln wie von sehr weit her. Gab es überhaupt ein Ziel? Es musste ja ein Ziel geben. Wo sonst sollte sie die ehernen Worte sprechen, die ihr schon so lange auf den Lippen lagen: „Freut euch, wir haben gesiegt!“ Und so lief sie dahin.

Achtziger

Tuesday, 13. May 2008

ich

Ich bin gebeten worden, für Westropolis einen Blogbeitrag über die Literatur der 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts zu schreiben. Abgesehen mal davon, dass es ja zweifelhaft scheinen könnte, Literaturgeschichte nach der Willkür des Dezimalsystems zu strukturieren; abgesehen auch davon, dass fälschlicherweise die Jahrzehnte nach der Zehnerziffer gerechnet werden, tatsächlich aber z. B. das vorletzte Jahrzehnt des zweiten Jahrtausends nach Christi exakt vom 1. Januar 1981 bis zum 31. Dezember 1990 dauerte; abgesehen davon, dass Literatur ein eher unscharfer Begriff ist und fraglich bleibt, ob damit nun ausschließlich die sog. „Schöne Literatur“, also die Belletristik, gemeint sein oder ein viel weiteres Feld abgeschritten werden soll – die Aufgabenstellung hat ja trotz (oder vielleicht gerade wegen?) dieser Ungenauigkeiten durchaus ihren Reiz.

In den 80ern war ich ein junger Mann, zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig. War ’s die beste Zeit meines Lebens? In diesen schon so fernen Jahren, von 1980 bis 1991, kamen meine fünf Kinder zur Welt. Ich arbeitete als Buchhändler bei Baedeker an der Kettwiger Straße, in wechselnden Positionen. Unsere junge Familie zog in unserer Heimatstadt Essen zweimal um: von Holsterhausen nach Werden, von Werden in den Stadtwald. Ich begann die Veranstaltungsreihe meiner „Literarischen Soireen“. Und unterdessen fand ich noch genug Zeit zum Lesen, denn schon damals verzichtete ich dankend auf minderwertigen Zeitvertreib. Man lebt schließlich nur einmal.

Und sonst? Der Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan und der Beginn des ersten Golfkriegs zwischen Iran und Irak lassen das Dezennium mit Säbelgerassel beginnen, die Wahl eines B-Movie-Revolverhelden zum Präsidenten der USA folgt auf dem Fuße. Die Anerkennung von AIDS als epidemische Seuche lässt sich global ebensowenig vermeiden wie national Kohls Kanzlerschaft. Gorbatschow verkündet zur Halbzeit des Jahrzehnts Glasnost und Perestroika und läutet damit das Ende des „Kalten Krieges“ ein, bevor im ukrainischen Tschernobyl der Kommunismus russischer Prägung seinen Todesstoß empfängt und der Kommunismus chinesischer Prägung sich nicht anders zu helfen weiß als mit einem Massaker auf dem „Platz des himmlischen Friedens“. Dann fällt die Berliner Mauer. Das war ’s.

War ’s das? Vielleicht im großen Rahmen der Politik. Im kleinen Rahmen, in unseren Wohnzimmern und Küchen fanden andere Veränderungen statt. Anrufbeantworter, Videorekorder und Mikrowelle halfen uns bei der ökonomischen Verwaltung unserer Arbeits- und Freizeit. Weil die Zeit immer knapper wurde, bekam McDonald’s als erste Fastfood-Kette seine Chance auch in “Old Europe” – und nutzte sie: „Gut, daß es McDonald’s gibt.“ So lautete 1982 der Slogan in Deutschland; und 1987: „Der Platz wo Du gern bist, weil man gut ißt.“ Das Privatfernsehen sorgte mit seinen Werbeunterbrechungen dafür, die Generation A (für Adipositas) heranzuzüchten, während das Krümelmonster aus der Sesamstraße in den Öffentlich-Rechtlichen vormachte, wie der Kalorienfraß ins Maul gestopft wird. Alles eins?

Der Rückblick auf die Literatur dieses Jahrzehnts gewährt eine der wenigen trostspendenden Perspektiven, die ich meinen besten Lebensjahren, unabhängig vom Paradies der Privatheit, abzugewinnen vermag. Aber davon werde ich, „wie gesagt“, an anderer Stelle berichten. Die genialste Erfindung der 1980er-Jahre war aus meiner Sicht übrigens Rubik’s Cube, ebenso zwecklos wie simpel – die literarischen Erfindungen dieses Jahrzehnts allerdings nicht gerechnet.

Gemischtes Doppel

Monday, 12. May 2008

dschungel

Eine feste Rubrik im freitäglichen SZ-Magazin ist neben Axel Hackes „Das Beste aus meinem Leben“, Rainer Erlingers „Gewissensfrage“, den sieben mimischen Posen unter „Sagen Sie jetzt nichts“, dem puristischen Kochrezept „Nimm 3“ und dem „Kreuz mit den Worten“ von CUS auch das „Gemischte Doppel“ von Andreas Bernard. Wir alle warten darauf, dass diesem Mixed-Turnier endlich die Puste ausgeht.

In dieser Woche war der Schüttel(un)reim „Pastor – Postar“ dran. (Fotos: dpa.)

Man lächelt, man schmunzelt günstigstenfalls – und blättert weiter.

Hier muss aber mal in aller erbarmungslosen Dringlichkeit nachgefragt werden: Streben solche im Archaikum der Magazingeschichte vielleicht noch leidlich amüsanten Ideen nach Unsterblichkeit? Gibt es keine Gnade für den gelangweilten Leser? Geht doch, bitte, endlich wieder mal brainstormen, liebe SZ-Redakteure. Dieser Einfall war ja gut. Aber allmählich fängt er an, streng zu riechen.

Ich ziehe vor lauter Verzweiflung schon in Erwägung, eine Parodie auf das „Gemischte Doppel“ in Serie gehen zu lassen. Hier ist, als Kostprobe, die erste Folge. „Dschungel – ‘n Duschgel“. Und wenn es dieses gemischte Doppel schon gab, dann ist die Dopplung des Doppels der beste Grund für den dringlichen Appell: „Es reicht! Lasst Euch was Neues einfallen!“

duschgel

Akkolade

Monday, 12. May 2008

handkuss

Die Begrüßung zwischen menschlichen Individuen wird üblicherweise von sprachlichen oder gestischen Handlungen begleitet, durch die die einander grüßenden Personen sich gegenseitig ihrer Beziehung zueinander versichern. So weisen Indianer sich gegenseitig bei einem Zusammentreffen in freier Prärie mit erhobenem rechtem Arm die offenen Handflächen vor, zum Beweis, dass sie keine Waffen tragen und einander friedlich gesonnen sind.

Solche traditionellen, symbolhaften Grußformen sind abhängig von der Kultur und Zeit – und modischen Wandlungen unterworfen. In meiner Kindheit waren Knicks und Diener noch anzutrainierende Devotionsrituale für Mädchen und Jungen gegenüber Erwachsenen. Die 68er mit ihrer Rebellion gegen den „Muff von tausend Jahren“ und ihrer Infragestellung von Autoritäten und geschriebenen wie ungeschriebenen Gesetzen haben dafür gesorgt, dass „Diener und Knicks […] ihre sichere Heimstätte heute nur in aristrokratischen Familien“ haben. (Asfa-Wossen Asserate: Manieren. Frankfurt am Main 2003, S. 222.)

Gleichzeitig sorgten die 68er mit ihrer sexuellen Revolution, ihrer Idealisierung von Spontaneität und der Befreiung des Körpers und der Gefühle dafür, dass sich bald neue Begrüßungsrituale etablierten. Erica Pappritz, Konrad Adenauers Protokollchefin im Auswärtigen Amt, hatte in ihrem Buch der Etikette 1956 über „Küsse, Handküsse und Umarmungen“ zur Begrüßung in der Öffentlichkeit noch verfügt: „Weder das eine noch das andere – und das dritte schon gar nicht! Die Öffentlichkeit ist nun mal kein Schauplatz für Zärtlichkeiten.“

Genau 50 Jahre später heißt es in einem Zeitungsartikel über Umarmung bis zur Entspannung: „Sich gegenseitig zu umarmen, ist heute selbstverständlich. Verwandte und Freunde tun es zur Begrüßung. Selbst Männer haben keine Sorge mehr, als schwul zu gelten, wenn sie einen Freund in den Arm nehmen.“ (Roland Mischke im Mannheimer Morgen vom 10. Oktober 2006). Und Prinz Asserate beobachtet die gleiche „Bereicherung“ mitteleuropäischer Begrüßungsgepflogenheiten: „Wenn man sich besser kennengelernt hat und eine gewisse Herzlichkeit zeigen will, gehört der Handschlag natürlich dazu – im ganzen Mittelmeerraum auch die Umarmung unter Freunden, die ,Akkolade‘, die mittlerweile auch in Deutschland weit über die Fußballplätze hinaus, auf denen sich besonders emphatisch umarmt wird, verbreitet ist.“ (A. a. O., S. 220.)

In wenigen Jahrzehnten wird so aus einer spontanen Grenzüberschreitung, aus einem von Herzen kommenden unmittelbaren Ausdruck tief empfundener Sympathie durch Routine und Gewöhnung eine gestische Floskel, ein hohler Brauch, eine bedeutungslose Selbstverständlichkeit. Und erst recht wird mir das modische Begrüßungsritual der Umarmung dann suspekt, wenn es zwanghaft wird. Wer sich ihm verweigert, gerät unter Rechtfertigungsdruck: „Was ist denn das für ein komischer Vogel? Reichlich verklemmt und distanziert, der Typ.“ Aber diesen Druck halte ich lieber aus, als mir selbst untreu zu werden. Die tiefe Bedeutung einer Umarmung lasse ich mir nicht durch Nachgiebigkeit gegenüber einem Gruppenzwang rauben. Ich möchte mir die Akkolade für sehr seltene und besondere Anlässe vorbehalten und sie nicht durch das Zugeständnis an eine herrschende Mode abnutzen lassen, durch mechanische, alltägliche Wiederholung. Ich bin kein Bewohner des Mittelmeerraums.

Abbaustelle

Saturday, 10. May 2008

gerlingplatz1

Der Essener „Gerlingplatz“ wurde am 13. September 1922 in „Republikplatz“ umbenannt, am 8. Mai 1933 in „Platz des 21. März“ und am 15. Mai 1945, zufällig dem siebzehnten Geburtstag meiner Mutter, wieder in „Gerlingplatz“. So heißt er noch heute. Vor gut 30 Jahren frequentierte ich für kurze Zeit mal die Essener Szene-Kneipe Panoptikum, Gerlingplatz 4. Der Name war Programm, hier gab ‘s allabendlich eine Kollektion von menschlichen Sehenswürdigkeiten zu bestaunen und zu belauschen, die man je nach Blickwinkel als die Avantgarde der Exzentrizität oder als den Bodensatz resp. Abschaum der wohlanständigen Mittelmaßgesellschaft hätte bezeichnen können.

In diesem Panoptikum verkehrte gelegentlich auch ein vollbärtiger Hartmut W., der mit einem lautstarken Unikum von Motorrad vorfuhr, einer 1000-ccm-Maschine Marke Eigenbau, ausgestattet mit einem Automotor und auf verschlungenen Pfaden aus der DDR importiert. Ich kannte mich mit Kraftfahrzeugen aller Art schon damals noch weniger aus als mit den Zuchtbedingungen von Veilchenohrkolibris in Zimmervolieren fern ihrer Heimat in den venezolanischen Anden. Immerhin gab mir zu denken, dass sich regelmäßig eine Traube fachsimpelnder Biker um Hartmuts No-Name-Zweirad gebildet hatte, wenn wir nach langer Nacht im Panoptikum schwankend auf die Straße traten. Dass ich als angstvoll klammernder Sozius auf dieser Höllenmaschine mein Bett lebend erreichte, erscheint mir noch heute als Gnade des Schicksals.

Eines Nachts griff Hartmut im Panoptikum über einem Teller Spaghetti Bolognese für drei Mark mit der rechten Hand in die Innentasche seiner schwarzen Lederjacke und zückte ein altes Schwarz-Weiß-Foto im halben Postkartenformat. „Das habe ich meiner Mutter heimlich aus dem Familienalbum stibitzt.“ Ich sah im Hintergrund Hakenkreuzfahnen vor einer dreistöckigen Mietshäuserzeile, im Vordergrund eine Menschenmenge, darunter einige Uniformierte, und links eine Eckkneipe mit der gerade noch lesbaren Schrift überm Eingang: „Gaststätte Wilh. Schmidt“. „Das war mein Großvater mütterlicherseits“, erklärte Hartmut. „Und die Kneipe, die du da siehst, ist genau die, in der wir gerade sitzen. Damals war das ein Stammlokal der Nazis.“ Ich sah mir das Foto sehr genau an und fragte mit leicht zitternder Stimme: „Was ist das denn für ein Stapel, der da rechts unten aufgeschichtet ist?“

„Vermutlich eine Baustelle?“ Hartmut zuckte die Achseln. In meinem Hirn funkte es zwischen zwei grauen Zellen, eine quicklebendige Synapse stellte die entscheidende Verbindung her. Hatte ich nicht gerade vor ein paar Tagen noch gelesen, dass die Bücherverbrennung in Essen auf dem Gerlingplatz zelebriert worden war? „Leihst du mir das Bild mal?“ Kurz drauf bat ich einen befreundeten Fotografen, mir eine Reproduktion anzufertigen, und gab Hartmut sein Original bei unserem nächsten Treffen im Panoptikum zurück. Ein paar Jahre später besuchte ich den besten Kenner der Geschichte des Nationalsozialismus und der Verfolgung seiner Feinde in Essen, Dr. Ernst Schmidt, in der Alten Synagoge und legte ihm die Reproduktion vor. Es bestand kein Zweifel, dass dieses Bild am 21. Juni 1933 aufgenommen worden war, genau sechs Wochen nach Beginn der landesweiten Bücherverbrennungen, die heute vor 75 Jahren in der Reichshauptstadt Berlin begannen. Es gibt ein zweites Foto, das den lodernden Bücherstapel wenige Stunden später zeigt:

gerlingplatz2

Ich habe immer großen Respekt gehabt vor jenen Steinzeithistorikern, die beim Schürfen in den tiefen Schichten unserer humanoiden Vergangenheit einen Faustkeil von einem gewöhnlichen, zufällig lädierten Kieselstein unterscheiden können. In diesem einen, einmaligen Fall fühlte ich mich ihnen ebenbürtig. Dr. Schmidt hatte mit einem Blick erkannt, dass die Uniformierten auf dem Foto die Tracht der NSBO trugen, der „Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation“, einer Art Nazi-Gewerkschaft. Es war nämlich ein macchiavellistischer Schachzug der frischgebackenen „neuen Herren“ gewesen, bei den Bücherverbrennungen ihre Hauptkampftruppen, die SA und SS, bewusst aus dem Spiel zu halten und durch die alleinige Präsenz der NSBO den Eindruck zu erwecken, die Errichtung dieser „Scheiterhaufen wider den jüdischen und kommunistischen Ungeist“ sei nicht von oben angeordnet worden, sondern „aus dem heiligen Zorn des einfachen Volkes, dem Unmut des rechtschaffenen Arbeiters“ erwachsen. Der örtliche Kreisleiter der NSBO, Parteigenosse Knaden, sprach in seiner Rede folgende Worte, bevor die Lunte entzündet wurde: „Wenn wir auf dem Platz des 21. März, auf dem Platz des Geistes von Potsdam den Scheiterhaufen errichten, so gerade deswegen, weil auf diesem Platz früher die Arbeiter von den internationalen Marxisten verhetzt worden sind. Die Schriften dieser unseligen Volksverräter sollen nun auf diesem Platze ihr Grab finden, und aus dem roten Fanal möge sich ein neuer deutscher Geist entwickeln.“ (Zit. nach Klaus Wisotzky: Vom Kaiserbesuch zum Euro-Gipfel. Essen: Klartext-Verlag, 1996, S. 136 f.)

Missgrill

Friday, 09. May 2008

missgrill

Gestern hat die neue Nachbarin im Garten hinterm Haus eine Grillparty veranstaltet. Bevor die Gäste eintrafen, galt es noch schnell den neuen fahrbaren Holzkohlegrill mit Windschutz und Ablagefläche am Fußgestell zusammenzuschrauben.

Es wurde ziemlich hektisch und die Montageanleitung war wohl etwas unübersichtlich. Warum passte bloß die stabilisierende Metallplatte nicht problemlos zwischen die vier Beine? Das blöde Ding musste tatsächlich mit roher Gewalt zurechtgebogen werden. So ein Murks – und das für rund 60 Euro!

Ich hätte ja liebend gern geholfen, aber man will sich schließlich nicht aufdrängen. Solche Offerten werden heute schnell als plumpe Anmache missverstanden: ,Trauen Sie mir das etwa nicht zu? Sie sind wohl auch einer von diesen Chauvis, die Frauen für technisch völlig unfähig halten!‘

Außerdem spielte ich gerade online eine Partie Schach als Nachziehender gegen „hollaatme“, 22 Elo-Punkte stärker als ich. Während ich grübelte, ob meine bedrohte Dame noch zu retten wäre, drangen aus dem Garten leise Flüche an mein Ohr.

Ich will mich nicht herausreden, aber ich war etwas abgelenkt. Die Dame ging flöten, die Partie war nicht mehr zu retten und ich verlor 23 Elo-Punkte. Das Ergebnis der Grillmontage ist schlecht zu erklären. Oft sagt ein Bild ja mehr als tausend Worte.

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Thursday, 08. May 2008

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Meinung

Thursday, 08. May 2008

„Un des droits le plus précieux de l’homme“ – eines der kostbarsten Rechte des Menschen: In diesen würdevollen Rang erhob die französische Nationalversammlung am 26. August 1789 in Artikel 11 der Déclaration des Droits de l‘Homme et du Citoyen das Recht auf Meinungsfreiheit, genauer: die freie Äußerung von Gedanken und Meinungen („la libre communication des pensées et des opinions“).

Bis zum heutigen Tag ist die Verwirklichung dieses kostbaren Rechtes ein Ideal geblieben, nicht nur in totalitären Staaten wie Kuba, wo heute in den Mittagsstunden das regimekritische Weblog „Generation Y“ der mutigen Yoani Sánchez vorübergehend vom Netz genommen wurde, sondern auch in Deutschland, wo der Innenminister zur gleichen Zeit drei rechtsextreme Vereine im ostwestfälischen Vlotho wegen Leugnung des Holocaust verboten hat.

Das Grimm’sche Wörterbuch unterscheidet gleich zehn verschiedene Bedeutungen des Wortes „Meinung“. Als Hauptbedeutung durchgesetzt hat sich nur die vierte, als „auffassung die einer von etwas hat; bestimmte, auf kenntnis und erwägung gegründete ansicht über etwas“. Meine Meinung über die beiden zufällig gleichzeitig erfolgten Beschränkungen der Meinungsfreiheit habe ich mir gebildet, indem ich mich mit allen mir in dieser „Offenen Gesellschaft“ (Karl Popper) zugänglichen Informationsmitteln einerseits über Kuba, andererseits über den Genozid an den Juden unterrichtet habe. Die dadurch erworbenen Kenntnisse erwog ich bei meiner Meinungsbildung und gelangte so zu der Ansicht, dass die Klagen von Yoani Sánchez über die Zustände in ihrer Heimat berechtigt, die Leugnung des Holocaust hingegen schlichtweg Nonsens ist.

Es besteht nach meiner Meinung also ein gravierender Unterschied zwischen der Unterdrückung der Meinung von Yoani Sánchez in Havanna, die beklagt, dass es in Kuba keine Zitronen zu kaufen gibt, und der von Ursula Haverbeck-Wetzel in Vlotho, die behauptet, die planvolle Ermordung von sechs Millionen Juden sei ein Mythos und Adolf Hitler „nur von einem göttlichen Auftrag im weltgeschichtlichen Rahmen“ her zu verstehen. Und doch! Mag dieser Unterschied so groß sein wie er will, mag Frau Sánchez meine tief empfundene Sympathie gelten und Frau Haverbeck-Wetzel meine ebenso tief empfundene Verachtung – das Verbot des rechtsextremistischen Vereins „Collegium Humanum“ (sowie dessen Teilorganisationen „Bauernhilfe“ und des „Vereins zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten“), dieses Vereinsverbot bleibt doch nach meiner Meinung eine Verletzung des kostbaren Rechts auf freie Meinungsäußerung.

Begründet wird Schäubles Maßnahme mit dem Vorwurf der „Volksverhetzung“, einem Straftatsbestand, der in § 130 des StGB definiert wird. Was soll man aber von einem Volk halten, das sich verhetzen lässt, statt sich eine Meinung zu bilden, die sich auf Kenntnis und Erwägung gründet und nicht auf bloße Affekte und niedere Beweggründe? Gewiss empfinden die kubanischen Machthaber das Weblog von Yoani Sánchez ebenfalls als „Volksverhetzung“. Die Klage über den Mangel an Zitronen kann ja durchaus interpretiert werden als „geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören“, indem sie „zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt“, in diesem Fall gegen die 15 Prozent der erwachsenen kubanischen Bevölkerung, die der Partido Comunista de Cuba angehören. Solange eine „Offene Gesellschaft“ zu den gleichen Mitteln greifen muss wie eine despotische Diktatur, solange bleibt das kostbare Recht auf freie Meinungsäußerung ein uneingelöstes Ideal.

Banane und Zitrone

Tuesday, 06. May 2008

baanane-und-zitrone

„¿Qué hago yo ahí?“ – Was habe ich nur hier zu suchen? Das fragte sich Yoani Sánchez (32), nachdem sie entdeckt hatte, dass sie vom US-amerikanischen TIME magazine auf eine soeben erschienene Liste der „100 einflussreichsten Leute der Welt“ gesetzt worden war. Einen gewissen Stolz empfinde sie lediglich darüber, dass sich vermutlich jetzt die übrigen 99 „World’s Most Influential People“, vom Dalai Lama bis zu Muqtada as-Sadr, eine ganz ähnliche Frage stellen würden: „Wer ist diese unbekannte kubanische Bloggerin, die uns hier Gesellschaft leistet?“ Ansonsten übte sich Sánchez in Bescheidenheit. Sie habe sich doch nie in Szene gesetzt, selbst ihre engsten Nachbarn wüssten nicht, ob sich ihr Vorname nun Yohani oder Yoanis schreibe, sie sei nur eine einfache Bürgerin und keine Heldin oder Pionierin und ihr Ziel sei lediglich, die Wahrheit zu erzählen, wie sie ihr aus ihrem „verdrehten Blickwinkel“ („distorsionado foco“) erscheine, ausgehend von ihren Gefühlen und von den Fragen, die sich ihr dabei stellten.

Yoani Sánchez, die einige Jahre in der Schweiz gelebt hat, bis sie das Heimweh packte und sie wieder nach Kuba zog, berichtet in ihrem Weblog vom alltäglichen Leben auf Kuba: von der Mangelwirtschaft, der Armut, den vielfachen Einschränkungen und Behinderungen, den desolaten Verhältnissen im gescheiterten Sozialismus, nach einem halben Jahrhundert Castro-Diktatur. Ihre Beiträge erscheinen nicht in täglicher Regelmäßigkeit, aber oft gleich mehrere pro Tag. Sánchez schreibt „auf Vorrat“, denn sie hat keinen eigenen Internet-Account und setzt ihre Postings deshalb schubweise in einem Touristenhotel ab, für fünf Euro pro Stunde, dem durchschnittlichen Halbmonatslohn eines Kubaners. Da sage noch einer, man könne mit der Bloggerei kein Geld verdienen!

Die Resonanz lässt sich sehen, Kommentarzahlen im vierstelligen Bereich sind eher die Regel als die Ausnahme. Sánchez beweist Mut mit ihrer offenherzigen, unverblümten Kritik der Zustände in ihrer Heimat. Mittlerweile ist sie aber vermutlich zu bekannt, als dass es sich das Regime noch ohne weiteren Imageverlust leisten könnte, sie vom Netz zu nehmen – erst recht nach ihrer Nobilitierung durch das TIME magazine. Weblogs erweisen sich so als die modernste Variante des Samisdat. Der Reiz des Verbotenen sorgt für gesteigertes Interesse. Und dass Zensur in einer multimedialen Welt grenzüberschreitender Massenkommunikation keine wirkliche Chance mehr hat, ist ja spätestens nach Honeckers Sturz und dem Untergang der DDR evident. Die Unzufriedenheit, die das allabendliche Programm des Westfernsehens mit seiner Werbung für die kommerziellen Segnungen des Kapitalismus unter den bevormundeten Bürgern der „ersten sozialistischen Republik auf deutschem Boden“ gesät hatte, war schließlich selbst in einem totalitären Stasi-Überwachungsstaat nicht mehr kontrollierbar. Das Volk wollte Bananen!

Eine kleine, aber feine Ironie der Geschichte ist insofern, dass es auch in Yoani Sánchez’ Blog jüngst um exotische Früchte ging. Die Bloggerin aus Havanna verspürte ein Kratzen im Hals und hätte so gern schwarzen Tee mit Zitrone getrunken. Zitronen waren aber auf allen Märkten und in allen Läden der Zwei-Millionen-Stadt Havanna beim besten Willen nicht aufzutreiben. „Wie kann das sein,“ so fragt Sánchez mit Todesverachtung, „dass so viel fruchtbare Erde, so viele Menschen willens zu produzieren, zu handeln und zu verkaufen sich nicht mit einem reichlichen Angebot an Zitronen auf dem Markt kombinieren lassen? […] Wann wird der Boden denen gehören, die ihn bearbeiten und nicht einem Staat, der ihn nur halbherzig in seinen verwahrlosten Latifundien benutzt? Soll ich weiter hoffen oder mich damit begnügen und den Geschmack von Zitronen vergessen?“

Erich Honecker rutschte schließlich auf einer Banane aus – fiel hin und brach sich das Genick. In Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) gibt es das bekannte Gedicht, das anhebt: „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn“ – und darin diese letzten Zeilen stehn: „In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut, / Es stürzt der Fels und über ihn die Flut: / Kennst du ihn wohl? / Dahin! Dahin / Geht unser Weg; o Vater, lass uns ziehn!“

Twardy

Monday, 05. May 2008

Auch Hans Siemsen, wir sprachen bereites mehrfach von ihm, hat gelegentlich für Die Weltbühne geschrieben. Am 20. Januar 1921 erschien dort sein entzückender Aufsatz Bilder von Kindern, anlässlich einer Ausstellung in der Buch- und Kunsthandlung Twardy in Berlin, Potsdamerstraße 13, „deren einziger Raum nicht größer war als ein sehr kleiner Zigarettenladen“. (Zit. nach Hans Siemsen: Schriften II. Kritik – Aufsatz – Polemik. Essen: TORSO Verlag, 1988, S. 128-130.)

Hans Siemsen war gewiss ein großer Melancholiker. Neben den Bildern der Arbeiterkinder hingen auch ein paar Bilder von erwachsenen Arbeitern. Siemsen vergleicht nun diese mit jenen, und es überkommt ihn eine große Traurigkeit. Unter den Kinderzeichnungen entdeckte er „ganz entzückende, ganz unwahrscheinlich schöne Sachen“, die Bilder der Erwachsenen aber waren „nur zu geschickte, aber ganz phantasielose, leere und hohle Kompositionen, oberflächliche Skizzen.“ (Siemsen, a. a. O.)

Was war denn bloß der Grund, so fragt sich Hans Siemsen, dass unterm Erwachsenwerden diese ursprüngliche Kreativität, ja schöpferische Genialität des Kindes auf der Strecke bleiben musste? Für Siemsen ist dies kein Wunder: „Was soll in dieser Erziehungsmühle, in diesem Folterautomaten, in den wir oben als Kinder hineinfallen und unten als ,fertige‘ Menschen herauspurzeln, was soll in dem noch übrigbleiben vom Künstler und Dichter in uns? […] Die Schulen, wie sie heute sind, hindern uns mit List und Gewalt daran, uns die Erkenntnisbäume selbst zu suchen und die Äpfel selbst zu pflücken. Sie servieren uns statt dessen wohlkonfektionierte, eingemachte und immer, aber immer mit Saccharin gesüßte Normalfrüchte. Einige kriegen davon das Kotzen. Die meisten verspeisen sie willig und brav – und haben nun nicht bloß ihre Unschuld verloren, sondern, was viel schlimmer ist, die konfektionierte Normal-Erkenntnis, Normal-Bildung, Normal-Geschicklichkeit dafür im Leibe.“ (Siemsen, ebd.)

Aber was war das nur für ein zigarettenladenkleines Kunstkabinett, dessen Inhaberinnen schon Anfang der 1920er-Jahre auf den Gedanken kamen, Bilder von Kindern auszustellen? Tatsächlich wurde ich im Internet fündig und erfuhr dort, dass Käthe und Emma Twardy am 20. Mai 1919 in Zoppot im Freistaat Danzig eine Buch- und Kunsthandlung gegründet hatten, die im Herbst 1920 nach Berlin expandierte, wo sie in der Potsdamerstraße 12 [?] unter dem Namen „Buch- und Kunstheim K. & E. Twardy“ ein kleines Lokal bezog. Da Herwarth Waldens „Sturm“-Verlag samt Galerie und Privatwohnung vis-à-vis in der Potsdamerstraße 134a beheimatet war, verkehrten bei Twardy bald Künstler wie Kandinsky, Archipenko und Moholy-Nagy.

Nach Hitlers „Machtergreifung“ verlieren sich die Spuren der rührigen Damen Twardy im Dunklen. Nach zwei Umzügen 1933 und 1934 innerhalb von Berlin erlischt die Firma. Im Adressbuch des Deutschen Buchhandels von 1936 ist sie nicht mehr verzeichnet.

Oss

Sunday, 04. May 2008

ossietzky

Heute vor siebzig Jahren starb Carl von Ossietzky im Krankenhaus Nordend in Berlin an Tuberkulose. Seit 1926 hatte der überzeugte Pazifist und Atheist an der von Siegfried Jacobsohn begründeten Zeitschrift Die Weltbühne mitgewirkt, zunächst als Journalist und Leitartikler, nach Jacobsohns Tod bald auch als verantwortlicher Herausgeber.

Im publizistischen Kampf gegen die Gefahr eines faschistischen deutschen Staats nach dem Vorbild der Mussolini-Diktatur in Italien nahm von Ossietzky kein Blatt vor den Mund. Zwar sah er frühzeitig die Bedrohung, der der erste demokratisch verfasste Staat auf deutschem Boden, die Weimarer Republik, durch Hitler und seine NSDAP ausgesetzt war. Und doch unterschätzte er völlig die politischen Zukunftschancen und zumal den energischen „Willen zur Macht“ jenes Postkartenmalers aus Braunau am Inn, wenn er z. B. in der Weltbühne vom 3. Februar 1931 schrieb: „Aber dieser deutsche Duce ist eine feige, verweichlichte Pyjamaexistenz, ein schnell feist gewordener Kleinbürgerrebell, der sichs wohlsein läßt und nur sehr langsam begreift, wenn ihn das Schicksal samt seinen Lorbeeren in beizenden Essig legt. Dieser Trommler haut nur in der Etappe aufs Kalbfell.“

Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 gehörte Carl von Ossietzky zu den ersten Opfern der Verhaftungswelle. Kurt Tucholsky, sein Kollege bei der Weltbühne, hatte schon früh bei „Oss“, wie er ihn in Briefen nannte, eine unerklärliche Lethargie bemerkt, ihm oftmals gar Faulheit vorgeworfen. Warum von Ossietzky die Gefahr, die ihm persönlich in Deutschland drohte, nicht rechtzeitig erkannte oder nicht erkennen wollte, wird wohl immer ein Rätsel bleiben. Nun begann ein fünfjähriger Leidensweg des körperlich schmächtigen Mannes, vom Spandauer Gefängnis über die Konzentrationslager in Sonnenburg bei Küstrin und Esterwegen im Emsland bis ins Berliner Krankenhaus Westend, wo er unter ständiger Bewachung der Gestapo stand, schließlich in die Fachklinik für TBC-Kranke in Niederschönhausen, wo er verstarb.

Als der Schweizer Diplomat Carl Jacob Burckhardt im Auftrag des IKRK 1935 das KZ Esterwegen besuchte, traf er auch Carl von Ossietzky, ein „zitterndes, totenblasses Etwas, ein Wesen, das gefühllos zu sein schien, ein Auge verschwollen, die Zähne anscheinend eingeschlagen“; von Ossietzky bat Burckhardt: „Sagen Sie den Freunden, ich sei am Ende, es ist bald vorüber, bald aus, das ist gut. […] Ich habe einmal Nachricht erhalten, meine Frau war einmal hier; ich wollte den Frieden.“ Bevor es vorüber war, wurde dem gebrochenen Mann aber noch im November 1936 rückwirkend der Friedensnobelpreis des Jahres 1935 zugesprochen. Hermann Göring persönlich bedrängte von Ossietzky, den Preis abzulehnen, aber der blieb standhaft: „Nach längerer Überlegung bin ich zu dem Entschluß gekommen, den mir zugefallenen Friedensnobelpreis anzunehmen. Die mir von dem Vertreter der Geheimen Staatspolizei vorgetragene Anschauung, daß ich mich damit aus der deutschen Volksgemeinschaft ausschließe, vermag ich nicht zu teilen. Der Nobelpreis für den Frieden ist kein Zeichen des innern politischen Kampfes, sondern der Verständigung zwischen den Völkern.“ Spätestens damit war wohl sein Schicksal endgültig besiegelt. (Das Gerücht, ihm seien im Krankenrevier von Esterwegen Ende 1934 Tuberkulosebakterien eingeimpft worden, ließ sich weder beweisen noch widerlegen.)

Die Jahrgänge der Weltbühne von 1918 bis 1933 hat der Athenäum-Verlag vor 30 Jahren in einem 16-bändigen Reprint herausgebracht. Carl von Ossietzkys Lebenswerk auf 27.000 Seiten. Antiquarisch ist dieses Dokument eines schließlich vergeblichen Kampfes gegen Diktatur und Krieg mit etwas Glück für hundert Euro zu haben.

Lebenselixier

Saturday, 03. May 2008

lsd-zeichnung-1976

Am vergangenen Dienstag ist Albert Hofmann, der Entdecker des Halluzinogens LSD-25, im jugendlichen Alter von 102 Jahren im schweizerischen Burg an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben. Noch vor zwei Jahren trat Hofmann als Vortragsredner bei einem zu seinen Ehren in Basel veranstalteten Symposium „LSD – Sorgenkind und Wunderdroge“ auf. In seinem Buch LSD – Mein Sorgenkind (1979) berichtet der Chemiker, wie er im April 1943 durch Zufall die phänomenale Wirkung des von ihm (im Zuge eines Serienversuchs mit der aus dem Mutterkorn gewonnenen Lysergsäure) bereits fünf Jahre zuvor synthetisierten Stoffes entdeckte. Er erzählt dort auch von seinen gemeinsam mit Ernst Jünger unternommenen Selbstversuchen.

Ernst Jünger hat in seinem Buch Annäherungen. Drogen und Rausch (1970) gleichfalls sehr eindrucksvoll diese Ausflüge in innere Räume an der Seite seines Freundes Hofmann geschildert. Es mag ja Zufall sein, dass auch Jünger das 102. Lebensjahr erreichte. Bemerkenswert ist aber doch, dass beide LSD-Versucher sich dieses Alters bis zuletzt bei vollkommener geistiger Klarheit erfreuten.

Ebenfalls bemerkenswert sind die Skrupel des schweizerischen Chemiekonzerns Sandoz, Hofmanns Arbeitgeber, der das in der psychiatrischen Behandlung von Psychosen angewandte LSD-25 bereits 1966 in den USA und fünf Jahre später auch in Deutschland vom Markt nahm. Bei einem anderen Medikament aus dieser Firma, dem suchterzeugenden Schmerzmittel Optalidon, war das Unternehmen nämlich weniger zimperlich. Es dauerte Jahrzehnte, bis Sandoz dieses Analgetikum entschärfte und das neue Präparat unter dem Namen Optalidon N in die Apotheken schickte. Einen so erfolgreichen Markennamen wollte man doch nicht ganz aufgeben, wenngleich der Umsatz anschließend rapide sank. Und ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass die ach so skrupulöse Pharmafirma in Basel die Versorgung von Ländern in der Dritten Welt mit dem suchtbildenden „Original-Optalidon“ noch für längere Zeit aufrecht erhielt.

Der Verzicht auf den Vertrieb von LSD-25 hingegen ließ sich leicht verschmerzen, denn diese „Droge“ ist bekanntlich alles andere als suchtbildend. Nach Einnahme eines Trips dauert es mindestens zehn Tage, bis Körper und Geist für ihre Wirkung wieder empfänglich sind.

Dieser Beitrag ist Albert Hofmanns Freund Aldous Huxley gewidmet, dem Autor von The Doors of Perception (1954) und Heaven and Hell (1956), dem vorurteilsfreien Erforscher innerer Welten, der 1963 im Alter von 69 Jahren an Kehlkopfkrebs starb. Kurz vor seinem Tod ließ sich Huxley von seiner zweiten Ehefrau Laura intramuskulär 100 Mikrogramm LSD-25 injizieren.

Luxus & Hunger

Friday, 02. May 2008

Ausgerechnet heute kam die Süddeutsche Zeitung, auf die abonniert zu sein ich mir eigentlich nicht mehr leisten kann, um Stunden verspätet. An „Brückentagen“ zwischen einem Feiertag wie gestern und dem Wochenende hat der örtliche Zustelldienst nämlich regelmäßig frei und die Zeitung kommt mit der „normalen“ Post, die unseren Briefkasten erst in der Mittagszeit füttert. Dabei war ich doch diesmal so gespannt auf die Magazin-Beilage, ein Themenheft zur Frage: „Was ist Luxus?“

Im Idealfall sind solche Magazine ja tatsächlich eine Fundgrube für jeden, der sich den Luxus einer vorbehaltlosen Nachdenklichkeit nicht nur leisten, sondern ihn zudem auch noch mit einer an Skrupellosigkeit grenzenden Gelassenheit genießen kann. „Dann schaun wir doch mal, was sie aus diesem Thema machen.“ Das ist regelmäßig die Frage, die nichts kostet, mit keinerlei Risiko verbunden ist. Wenn das Heft enttäuscht, darf man sich an stiller Häme schadlos halten. Und wenn die Redakteure ein inspirierendes Meisterwerk feuilletonistischer Prosa ins Land geschickt haben, dann hat man wieder für ein Weilchen das schlechte Gewissen beruhigt, über seine Verhältnisse zu leben.

Manchmal reicht schon ein einziger Satz in einem solchen Heftchen, um mir den Tag zu versüßen. Heute war es leider nur der halbe Tag, weil das SZ-Magazin ja verspätet eintraf. Der Satz steht auf Seite 10, in der regelmäßigen Kolumne „Das Prinzip“ von Tobias Kniebe. Er wird fälschlicher-, ja böswilligerweise der Pop-Sängerin Mariah Carey zugeschrieben, die ihn aber, das schickt Kniebe ihm voraus, niemals gesagt hat. (Kürzlich hatte ich noch bei SPON gelesen, dass diese „Pop-Rekordhalterin“, die in den USA mehr Nummer-1-Hits als Elvis Presley gelandet und sich, als „Presswurst“ verhöhnt, zur Traumfigur „diätet“ habe, Gerüchten zufolge soeben im „Blitzverfahren“ heiratete – wen auch immer; und wer auch immer diese Mariah Carey sein mag.)

Und jetzt lese ich im SZ-Magazin diesen von Carey niemals gesagten Satz: „Wenn ich den Fernseher anmache und die armen verhungernden Kinder in aller Welt sehe, muss ich hemmunglos weinen. Ich meine, natürlich wäre ich auch gerne so schlank, aber nicht mit den Fliegen und dem Tod und dem ganzen Zeug.“

Kniebe teilt weiterhin mit, dass dieses Zitat, eine satirische Erfindung aus dem Internet, „seinerzeit“ um die Welt gegangen sei und „von Malmö bis Mombasa“ Empörung ausgelöst habe. Das habe ich wohl verpasst, ich kannte den Satz bisher nicht. Er bringt mich aber zu dem vorläufigen Schluss, dass das SZ-Abonnement für mich kein Luxus ist, sondern mich mit einem lebenswichtigen Grundnahrungsmittel versorgt. (Kniebes Thema übrigens, in seiner Rubrik „Das Prinzip“, lautete im heutigen Luxus-Themenheft: „Hunger“.)

Volles Haus

Friday, 02. May 2008

Na, das ist doch sehr erfreulich, wenn nahezu alle angekündigten Gäste zur Literarischen Soiree erscheinen, guter Dinge sind, keine Weingläser umschmeißen, aufmerksam zuhören, an den richtigen Stellen herzhaft lachen und zum Schluss sogar noch applaudieren.

Tatsächlich scheint auch niemand in den immerhin knapp drei Stunden ununterbrochener Vorlesung eingeschlafen zu sein. Und es hat sich auch keiner getraut, vorzeitig aufzubrechen. Die unpeinliche Gelegenheit dazu wollten wir aber auch nicht bieten. Pause gab’s keine.

Das riskante Experiment eines rezitatorischen Duetts – diesmal ist es, im zweiten Anlauf, sichtlich geglückt. Und das schönste, offenbar von ganzem Herzen kommende Kompliment des Abends sagte eine der drei Evas: „Das hat mir sehr gut getan!“ Was will man mehr?

Hätte man den Abend doch photographisch dokumentieren sollen? Oder gar filmisch? Nein, es hat schon seine Richtigkeit, dass seine Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit von keiner Konservierung getrübt wird. Einladung, Programm und Gästebuch müssen reichen.

Vor zehn Jahren hätte ich mir nach einem solchen Erfolg gesagt: ,Das mache ich ab sofort wieder regelmäßig, allmonatlich, wie üblich am Ersten. Auf dass das zweite Hundert voll werde.‘ Aber leider reichen dazu die Kräfte nicht mehr. So muss sich ein altes Haus damit abfinden, nur noch ausnahmsweise ein volles Haus zu haben.