Lesebrille

Zwischen zwei Büchern gibt es für den obsessiven Leser einen Augenblick, da nagt der Zweifel bis auf die Knochen. Und noch eins? Und welches? Und wozu überhaupt weiter lesen? Habe ich nicht längst schon mehr als genug gelesen? Gehorche ich vielleicht bloß einem pathologischen Zwang, einer krankhaften Lesesucht, indem ich nun schon wieder nach einem neuen Buch giere, wo ich das letzte doch gerade erst aus der Hand gelegt habe?

Lohnte es denn überhaupt die Liebesmühe, die Anstrengung des Lesens – dieses zuletzt gelesene Buch? War es die Zeit wert, die ich über oder unter oder mit ihm verbrachte?

Und wenn nicht: Verspricht mir das nächste Buch, das ich schon längst ins Auge gefasst habe, tatsächlich mehr Erfüllung? – Oder wenn doch: Laufe ich nicht Gefahr, den starken Eindruck, den ich von meiner letzten Lektüre noch in mir trage, durch eine neuerliche Enttäuschung, denn Leseenttäuschungen sind ja viel häufiger als ihr Gegenteil, zunichte zu machen?

Aber ich habe ja gar keine Wahl. Denn mit dem Lesen endgültig aufzuhören erschiene mir wie der freiwillige Verzicht auf ein Sinnesorgan. Zu Lebzeiten das Lesen zu lassen ohne zu erblinden, das käme mir geradezu vor, als wollte ich mich ohne Not an einer der prachtvollsten Möglichkeiten des Sehens versündigen.

Und so lese ich weiter und weiter und weiter; und sollte ich mir darüber die Augen verderben.

(Für Jorge Luis Borges.)

4 Responses to “Lesebrille”

  1. Matta Schimanski Says:

    Lesen hat Suchtcharakter.
    Es verdirbt schonmal die Tagesplanung.
    Aber es verdirbt nicht die Augen – das sei ein Mythos, las ich unlängst wieder.
    Wie gut zu wissen!

  2. Günter Landsberger Says:

    Aber ein besonderes Erlebnis ist es doch immer: das im gerade deswegen unvergesslichen Ausnahmefall die Tagesplanung über den Haufen werfende Lesen. Wenn einem plötzlich das Karl-May- oder Dostojewskij-Fieber überkommt. Ich habe einmal bei einer Tagung einen damals (vor zehn Jahren) noch relativ jungen Buchhändler kennengelernt, der schwor auf sein persönliches Romanfavoritenpaar, das aparte Buchpaar seiner Lesehungererweckung: Wilhelm Raabe: “Das Horn von Wanza” und Stephen King: “Es”.

  3. Bernd Berke Says:

    Das Schwierige, ja wohl Unmögliche ist doch: aus der unendlichen Fülle die “richtigen” Bücher herauszugreifen. Was, wenn man am Lebensende erführe: Du hast die völlig falschen Bücher gelesen – dies und jenes hätte dir weitaus mehr entsprochen, dich entschieden mehr vorangebracht? Es wäre fast so arg, als wüsste man am Ende: Du hast dein Leben verschleudert, deine Talente nicht genutzt, das Wesentliche versäumt…

  4. Günter Landsberger Says:

    In seinem Leben, glaube ich, hat jeder Lesewillige genügend Zeit, die für einen selber aktuell oder dauerhaft wichtigen Bücher zu finden. Manche haben sogar einen sich mehr und mehr ausprägenden Spürsinn dafür. Und manchmal stellt sich genau das richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt ein. Als hätte es auf einen gewartet.
    Die Intuition ist hier oft wichtiger als die Überlegung.

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