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Die Unausgelesenen

Sunday, 13. April 2008

Es gibt eine sehr seltene Sorte Leser, die Bücher grundsätzlich bis zur letzten Seite auslesen, auch dann, wenn sie sie schon nach zehn Seiten unerträglich finden. Zu dieser Sorte von Lesern gehöre ich nicht.

Es gibt eine Sorte Bücher, bei denen ich bis zur letzten Seite nicht weiß, ob ich sie nach dem Auslesen lesenswert finden oder den Stab über sie brechen werde. Solche Bücher lese ich üblicherweise aus, weil ich’s unbedingt wissen will. Wenn ich’s dann weiß, bin ich entweder enttäuscht oder zufrieden.

Es gibt eine Sorte Bücher, die dem Leser viel Geduld abverlangen, höchste Aufmerksamkeit auf jeder Seite fordern, so dicht sind sie, so doppelbödig, so rätselhaft oder so widerspenstig. Sie geben immer nur wenig mehr als sie nehmen, aber gerade genug, um den Leser bei der Stange zu halten, bis zur letzten Seite. Wenn ich solche Bücher vorzeitig aus den Augen verliere, weil mich in einer schwachen Minute andere, leichtlebigere Buchversuchungen einfangen, dann komme ich mir vor wie ein untreuer, überrumpelter Geliebter. Ich verspreche mir und ihnen, so bald wie möglich zu ihnen zurückzukehren, den Faden wieder aufzunehmen. Diesem Vorsatz bleibe ich nur selten treu. Fällt irgendwann später mein Blick auf ihren meist breiten Rücken, fühle ich mich zugleich angeklagt und verschmäht. ‚Du hättest mich vergessen, träte ich jetzt nicht durch meine körperliche Präsenz zufällig wieder in dein Blickfeld.‘ So raunen sie mir zu. ,Du bist es nicht wert, mich auszulesen. Vergiss mich also getrost. Du hast deine Chance vertan.‘ So die Rede dieser Bücher, die mir beleidigt den Rücken zukehren. Ich kann ihnen nicht widersprechen und fühle mich schuldig. Diesen Büchern gegenüber, was schon schlimm genug ist; viel schlimmer aber noch: mir selbst gegenüber.

Es gibt eine rare Sorte Bücher, die ich ein zweites, gar drittes Mal lese, bis zur letzten Seite auslese, im Abstand von etlichen Jahren. Viele waren es bisher nicht, und die meisten enttäuschten mich bei der zweiten Lektüre. Die wenigen, die mich nicht enttäuschten, hebe ich mir für ein drittes Mal auf. Dieses dritte Mal zögere ich hinaus, so lange es mir eben möglich ist. Meine Lieblingsbücher.

Es gibt eine sehr zahlreiche Sorte Leser, die wenige Bücher lesen, zwölf oder gar nur zwei pro Jahr. Nach ihren Lieblingsbüchern befragt geben sie meist Bücher an aus einem Fundus von hundert, vielleicht dreihundert immergleichen Titeln. Meine Lieblingsbücher sind darunter nie vertreten. Enttäuscht mich das? Macht es mich einsam? Tröste ich mich darüber hinweg mit einem elitären Snobismus; meiner besserwisserischen, hochnäsigen Kennerschaft? Das alles mag, cum grano salis, zu bejahen sein. Bestseller-Allergie als Berufskrankheit des langjährigen Buchhändlers? Schon möglich. „Kultbuch“-Ekel? Vermutlich. Die einfach gelesenen Bücher sind der Humus meines Leserlebens, die dreifach gelesenen seine stolze Blüte – und die unausgelesenen Blitz und Donner über dem weiten Zeilenfeld des Lesens.