Siemsen, die Zweite

Mittlerweile bin ich mit meinen Nachforschungen zu Leben und Werk des vergessenen homosexuellen Schriftstellers Hans Siemsen (1891-1969) ein gutes Stück vorangekommen. Die seltene, dreibändige Werkausgabe im Essener Torso-Verlag fand ich doch tatsächlich in der hiesigen Stadtbibliothek – einsortiert unter Heimatkunde! So ganz abwegig ist das nicht einmal, denn Siemsen hat in Essen nicht nur seine letzten Lebensjahre verbracht; er hat hier offenbar auch viel früher einmal, nämlich in den 1920er-Jahren, in der Alfredstraße 23 eine Zweitwohnung gehabt.

Hans Siemsen beschloss sein Leben als „Pflegefall“ im Essener Otto-Hue-Haus, einem Altenheim der Arbeiterwohlfahrt in der Barthel-Bruyn-Straße 46 in Essen-Holsterhausen, in das er im November 1953 eingeliefert wurde. „Dort vegetierte er noch fast sechzehn Jahre dahin, pflegebedürftig, teilnahmslos und geistig isoliert. Wenn man Siemsen fragte, ob er nicht Papier zum Schreiben haben wolle, soll er gesagt haben: ,Nein, nichts mehr.‘ – Sein einziger Kontakt war zuletzt nur noch eine Pflegerin; nicht einmal der Pförtner des Altenheims kannte seinen in der Öffentlichkeit längst vergessenen Namen.“ So Herausgeber Dieter Sudhoff in seinem Nachwort zu der schmalen Sammlung von Siemsens „Erlebnissen“ und Feuilletons, die jüngst im Berliner Verlag Das Arsenal unter dem Titel Nein! Langsam! Langsam! erschienen ist.

Sehr langsam nähere ich mich diesem Vergessenen, zögerlich und behutsam, als könnte ich durch übertriebene Neugier, durch meine zupackende Wissbegier jenen Zauber zerstören, der von den wenigen mir bislang bekannten Siemsen-Texten ausgeht. Eben sah ich dank Google-Bildersuche erstmals Hans Siemsens Gesicht, ein Jugendbild wohl aus den Zwanzigern des vorigen Jahrhunderts. Mit ungläubigem Staunen nehme ich zur Kenntnis, dass einen Autor, der 1924 das erste Buch über das Stummfilm-Genie Charlie Chaplin schrieb, heute in Deutschland kaum jemand mehr kennt. Bereits vier Jahre zuvor hatte Siemsen in der Weltbühne über Chaplins Film A Dog’s Life geschrieben – zu einer Zeit, als noch kein einziger Chaplin-Film in Deutschland gelaufen war. Und 1926 schrieb er die deutschsprachigen Zwischentitel zu Charlies frühem Meisterwerk.

Der dritte Band der Torso-Ausgabe von Siemsens Schriften, der die erhaltenen Bruchstücke seiner Korrespondenz öffentlich machte, überliefert zahlreiche Briefe an ihn von Muschelkalk Ringelnatz, mit bürgerlichem Namen Leonharda Pieper, der Ehefrau von Kuttel Daddeldu. (Siemsens Antworten dürfen wohl endgültig als verloren gelten. Mit jedem von Muschelkalks Briefen bedauert man diesen Verlust mehr.) Der Verleger und Herausgeber dieser Ausgabe, Michael Föster, schrieb in seinem Vorwort zum dritten Band der Schriften: „[…] selbst lange Korrespondenzen sind nur teilweise erhalten […] und in der Regel waren die Briefe des einen oder anderen, selten die Briefe beider Partner aufzufinden. Wir sehen also nur die eine Seite, hören nur das Echo, nicht den Ton, auf den es antwortet. Oder umgekehrt: Wir lesen die Frage, aber nicht die Antwort.“

Nach allem, was ich in so kurzer Zeit von und über Hans Siemsen erfahren habe, bleibt mir vorläufig nur, dem Berliner Verlag Das Arsenal und seinem Verleger Peter Moses-Krause viel Glück und einen langen Atem zu wünschen bei dem verdienstvollen Unternehmen, einen ebenso zarten wie präzisen Schreiber, einen sinnenfrohen Flaneur und liebenswürdigen Menschen aus nahezu völliger Vergessenheit in die hoffentlich aufmerksamere Gegenwart hinüberzuretten.

One Response to “Siemsen, die Zweite”

  1. Revierflaneur » Blog Archiv » Montag, 5. Mai 2008: Twardy Says:

    […] Hans Siemsen, wir sprachen bereites mehrfach von ihm, hat gelegentlich für Die Weltbühne geschrieben. Am 20. Januar 1921 erschien dort sein […]

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