Ich gehöre nicht zu jenen 7,3 % der Bevölkerung dieses Landes, die regelmäßig den Spiegel lesen. Zu der Woche für Woche verkauften Auflage des Magazins von einer Million trage ich nur sehr sporadisch bei, vielleicht ein- bis zweimal pro Jahr. Heute war’s wieder mal an der Zeit, die dafür fälligen 3,50 € auf den Zahlteller des Kiosks meines Vertrauens zu legen. SPON hatte mich in Versuchung geführt, mit der Anpreisung des aktuellen Titelthemas: „Wie ticken die Deutschen? – Warum wir so sind, wie wir sind“.
„Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller,“ so hieß es dort, „sie sind erforscht, denn um sie dreht sich alles in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Ihr Massengeschmack bestimmt, was produziert wird, wer im Kanzleramt sitzt, worüber man einschläft, abends vor dem ZDF. Alles zielt auf die Mitte, Angela Merkel und die Medien, wer vollkommen normal ist, ist der heimliche König Deutschlands, Otto, der Mittlere.“ Auch mich, den Exzentriker, der nichts zu verkaufen hat und von niemandem gewählt werden will, interessiert diese Mitte, nämlich insofern, als ich mich in kleinen Schritten immer weiter von eben diesem Epizentrum der Durchschnittlichkeit wegzubewegen trachte. Es kann ja nicht schaden zu wissen, so dachte ich, welche „Einstellungen und Haltungen“ die Spiegel-Demoskopen „in zwei Umfragewellen“ zweitausend auskunftwilligen Deutschen abgelauscht haben, damit ich noch etwas klarer erkenne, was ich unter keinen Umständen sein bzw. werden will: ein typischer Deutscher.
Nun liegt der Spiegel also vor mir und ich verfolge anhand stellenweise eher unübersichtlicher Schaubilder den typischen Alltag von Otto N. und Lieschen M. Jeder Tag beginnt für die beiden um 6:23 Uhr und endet um 22:47 Uhr, ein Tag zwischen Aufstehen und Zu-Bett-Gehen. Dem Begleittext der zwölf Spiegel-Redakteure entnehme ich zudem, dass der deutsche Mensch im Mittel exakt 15 Minuten benötigt, bis er eingeschlafen ist. Ob er morgens schon vor dem Sprung aus dem Bett aus seiner bevorzugten Seitenlage (69 %) ein Weilchen wach war, über seine Träume nachdachte, den bevorstehenden Tag Revue passieren ließ, das verschweigt die Studie ebenso wie die häufigsten Inhalte seiner Träume. Da aber nach eigener Einschätzung 81,5 % der Befragten „sehr gut“ oder doch „ziemlich gut“ schlafen, darf man auf einen traumlosen oder doch mindestens albtraumlosen Schlaf schließen, und auf ein Traumleben, das keine Spuren im Wachleben des Durchschnittsdeutschen hinterlässt. Ein paar Minuten mehr oder weniger machen ja übrigens den Kohl nicht fett. Und so unterstelle ich mal, dass Otto N. in seiner stabilen Seitenlage zwischen 23.02 Uhr und 6:23 Uhr ohne Bewusstsein ist. Nach meiner Rechnung entspricht dies einem knappen Drittel des 24-Stunden-Tages – und damit einem Drittel der Lebenserwartung heute lebender Frauen und Männer, die gegenwärtig 82,1 bzw. 76,6 Jahre beträgt. Im Durchschnitt verpennen also die Deutschen täglich sieben Stunden und 21 Minuten ihrer Lebenszeit, ganze 27,3 bzw. 25,5 Jahre ihres einmaligen, unwiederholbaren, endlichen Lebens. Wie schrecklich!
Erleichtert nehme ich zur Kenntnis, dass ich mit diesem Phantombild in keinem Detail übereinstimme. Zwar kann ich bedauerlicherweise im Unterschied zu Émile M. Cioran auf den Nachtschlaf nicht ganz verzichten, aber auf napoleonische vier Stunden vermag ich die unverschämten Forderungen der Götter Hypnos und Morpheus doch herabzudrücken, wenngleich nicht immer, so doch mit zunehmendem Alter immer öfter. Zudem gehöre ich zu den nur 18,5 %, die „nicht gut“ schlafen. Im Gegenteil ist mein Schlaf unruhig, ich wälze mich im Bett herum, meine häufigen Albträume stillen meinen Bedarf an Horrorfilmen zur Genüge (wodurch ich in meiner wachen Zeit wiederum Zeit spare). Das Wort vom „Schlaf der Gerechten“ ist mir nie eingegangen und ich habe immer schon gemutmaßt, dass es ursprünglich „Schlaf der Selbstgerechten“ hieß. So schlafe ich also, wenn ich endlich eingeschlafen bin, „sehr schlecht“. Leider unterschlägt der Spiegel den Prozentanteil jener, die wie ich dieser schlafgestörten Randgruppe zugehören.
Schon nach dieser Stichprobe, zum Schlafverhalten meines Widerparts, des „Musterdeutschen“ – so wird Otto N. tatsächlich in der Titelgeschichte des Spiegel auch einmal genannt – ist evident: Diese 3,50 € haben sich rentiert. Der Erkenntniswert eines solchen Vergleichs zwischen mir und ihm, auch der Lustgewinn für mich, den selbstbewussten Outsider, waren den Einsatz jetzt schon wert. „Jeder Mensch,“ so der Spiegel, „befragt sich nach der eigenen Nähe, dem eigenen Abstand zum ,Normalen‘. Jeder will dabei besonders sein, individuell erkennbar, originell, und jeder bewegt sich dabei doch viel öfter, als er ahnt, in der großen Karawane namens Durchschnitt. Und selbst der größte Individualist, der glaubt, ein Unikum zu sein, misst sein Lebensglück im Abstand zu ihm, dem Menschen, der das Maß der Mitte ist.“ Den nächsten Spiegel kaufe ich frühestens in 26 Wochen. Bis dahin werde ich regelmäßig montags, unter der Headline „Otto N.“, von der ganz individuellen, originellen, exzentrischen Auswertung dieser „Mittelmaßstudie“ zehren können. Nur 13 €-Cent als Vorabinvestition für jeden dieser Blog-Beiträge – da kann ich doch wahrlich nicht meckern! – Danke, Spiegel!
[Fortsetzung Otto N. (II).]