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Romanelesen

Saturday, 29. March 2008

Manchmal lese ich einen Roman mit mittelmäßigem Interesse, das sich zwischen Begeisterung und Enttäuschung nicht entscheiden kann. Dann stoße ich zum Beispiel (S. 132) auf einen einzigen kurzen Satz, der die Entscheidung bringt. Diesmal war es dieser: „Gretl sieht ihn an wie ein auf sie zu rasendes Auto.“ (Matthias Hirth: Angenehm. Erziehungsroman einer Künstlichen Intelligenz. München: blumenbar Verlag, 2007.)

Oft frage ich mich beim Romanelesen, ob ich mir in meinem Alter das Romanelesen eigentlich noch leisten kann. Lernen kann ich da längst nichts mehr, was mein eigenes Schreiben angeht. Ist das Romanelesen nicht eigentlich ein leicht anstößiges Laster, peinlich fast, wie wenn der Aufsichtsratsvorsitzende in seinem Hobbykeller das Krokodil durchs Gleislabyrinth seiner Märklin-Eisenbahn jagt?

Selten lege ich einen zeitgenössischen Roman ausgelesen beiseite in der festen Überzeugung, dass seinem Autor damit etwas wirklich Einzigartiges, Unverwechselbares gelungen ist: ein neuer Ton, eine nie zuvor berührte Stimmung, der Blick in einen Winkel, der bisher im Schatten lag. (So zuletzt geschehen mit Günther Rücker: Otto Blomow. Geschichte eines Untermieters. Berlin: Rütten & Loening, 1991. Komischer hat wohl noch niemand die anthroposophische Suada karikiert, wie Rücker im fünften Kapitel, S. 159-211.)

Immer leide ich unter dem Konflikt, welchen Roman ich nach dem Auslesen des letzten Romans als nächsten anlesen soll. Auf dem Regalbrett mit den vielleicht zu lesenden Romanen locken dann mindestens drei Dutzend Buchrücken; aber nur einer dieser Romane kann ’s schaffen, dass ich ihn herauszupfe, um ihm eine Woche oder zwei meiner Lebenslesezeit zu opfern. Für jeden sprechen, gegen jeden widersprechen Rezensionen, Hörensagen, Querverbindungen, Empfehlungen und Abfälligkeiten. Die Zeit zwischen den Romanlektüren wird mir regelmäßig zur Entscheidungsqual.

Nie finde ich den Roman, den ich selbst gern geschrieben hätte.